Die Freiheit hat zwei Seiten

■ Mit japanischen Augen gesehen: Studieren an der Berliner Humboldt-Universität

Seit meinem ersten Tag in Berlin bin ich überrascht über die Vielfalt der Studenten. In Japan sind die meisten Menschen sehr darauf bedacht, was der nächste über einen denkt. Das hat an meiner Universität in Tokio dazu geführt, daß die Studenten ziemlich homogen sind oder ihre unterschiedlichen Meinungen zumindest nicht nach außen tragen. An der Humboldt- Universität sind die Studenten sehr unterschiedlich – nicht nur bezüglich ihrer Einstellung. In den Seminarräumen sieht man Studenten jeden Alters. Kommt man mit ihnen ins Gespräch, erfährt man, daß manche schon einen Beruf gehabt haben, andere gerade vom Gymnasium kommen und wieder andere schon ein Kind haben.

Insbesondere im Vergleich zu dem sehr verschulten Universitätssystem in Japan bin ich erstaunt über die großen Gestaltungsmöglichkeiten, die ein deutscher Student hat. Man kann sich seinen Stundenplan individuell zusammenstellen. In Japan erlangen alle Studenten innerhalb von vier Jahren ihren ersten Universitätsabschluß; so einen vorgefertigten Zeitplan gibt es in Deutschland nicht. Auch habe ich Kommilitonen, die ein Zweitstudium gewählt haben, was ich als echten Luxus empfinde.

Was auch auffällt, ist, daß der Ausleseprozeß, der in Japan durch die schwierigen Eintrittsexamina vollzogen wird, in Deutschland erst während des Studiums einsetzt. Dies bedeutet, daß man an einer deutschen Universität viel lernen muß. In Japan ist die Wahrscheinlichkeit, einen Abschluß zu bekommen, auch mit weniger Lernaufwand viel höher.

Mir kommt es so vor, als ob man den Studenten in Japan viel weniger Freiräume läßt. Folgt man dort jedoch dem vorgezeichneten Weg, wird einem vieles leichter gemacht. Mit anderen Worten: Die Freiheiten in Deutschland spiegeln sich auf der einen Seite in großen Gestaltungsmöglichkeiten wieder, auf der anderen Seite aber auch in einer hohen Zahl von Studienabbrechern. In Deutschland kann man viele Wege gehen, und selbst Studienabbrecher haben im Vergleich zu Japan, wo es fast undenkbar ist, sein Studium nicht zu beenden, noch eine Chance, Arbeit und Anerkennung zu finden.

Früher mußte man sich in Japan wenig Sorgen um sein Studium machen, sobald man an einer Universität angenommen worden war. Arrangierte man sich mit dem durch die Gesellschaft vorgezeichneten Weg und hatte man das Glück, an einer der prestigeträchtigen Universitäten zu studieren, war auch der Weg zu einer guten Stelle bei einer großen Firma gesichert.

Doch mit dem Ende der Bubble Economy – der Hochkonjunkturphase von 1976 bis 1990 – konnten immer mehr Studenten keinen guten Beruf mehr finden. Seither fordern auch in Japan Wissenschaftler und Politiker, daß sich die Gesellschaft aus dem Abhängigkeitsverhältnis lösen muß. Vor allem junge Leute sollen viele verschiedene Fähigkeiten entwickeln, die es ihnen ermöglichen, im späteren Leben unabhängig zu sein, heißt es heute. Langsam setzen Reformen ein.

Der Mehrheit der Bevölkerung ist noch nicht bewußt, daß sich Japan in einem starken Reformprozeß befindet. Viele sind auch verunsichert und verstehen nicht, warum sie sich nicht mehr an dem altbewährten Weg orientieren können. Die notwendig gewordene Fähigkeit, unabhängig zu sein stellt viele Japaner vor große Probleme. Eine Reform der Universitätsausbildung wäre eine Möglichkeit, die allgemeine Reform zu unterstützen.

Vieles muß ich noch in Deutschland entdecken. Sicher ist jedoch, daß ich zwei sehr unterschiedliche Gesellschaftsformen kennengelernt habe, die auch auf meine Persönlichkeit großen Einfluß genommen haben. Tomoko Shioda