Besuch auf dem Handy-Campus

■ Wer als Austauschstudent nach Tokio kommt, hat viel zu gucken: Von Uniformierten, Nachwuchsyuppies und Schlafpausen. Zum Nachdenken kommt kaum einer an die Uni

Als Student kann ich es mir leisten, mich erst nach der Rush- hour, die gegen acht Uhr mit 200prozentiger Überfüllung der Nahverkehrszüge ihrem Höhepunkt zustrebt, in die Bahn zu wagen. Zwar ist an Sitzen auch dann nicht zu denken, zumindest aber ist das Stehen ohne körperlichen Kontakt zu meinen Mitpendlern möglich.

Wenn ich unausgeschlafen in der Uni ankomme, begrüßt mich ein Piepschwall. Scheinbar jeder meiner KommilitonInnen hat so 'n Handy, mit dessen Hilfe wichtige Botschaften wie „Wo bist du?“, „Wie geht's dir?“ und „Wir treffen uns nachher“ ausgetauscht werden. Neben dieser Fundamental- Kommunikation hat der Studierende auch Vorlesungen wahrzunehmen, eine weitere Schlafgelegenheit. Wahlweise kann man im Hörsaal aber auch weiterplaudern, in telefonbuchdicken Comics blättern, oder – wenn man sich ganz weit nach hinten setzt – diskret weiter telefonieren.

Das weitverbreitete Vorurteil, die Uni in Japan sei eine angenehme Ruhephase zwischen Schulstreß und Überstunden in der Firma, stimmt aber nicht ganz. Dank der angespannten Wirtschaftslage müssen auch die Geisteswissenschaftler (allen voran die Juristen und Wirtschaftswissenschaftler – wer sonst?) ein bißchen mehr aufpassen. Das spiegelt sich vor allem in der Klamottenwahl wider: Gäbe es nicht eine kleine (männliche) Minderheit, die auf der preußischblauen Uniform besteht, könnte man denken, der Campus sei von Büroangestellten und Nachwuchsyuppies überrannt worden. Zwischen Modeeinkauf, Arbeitssuche und konsumorientierter Freizeit gibt es kaum Gelegenheit – oder besser gesagt Anstoß – ein bißchen nachzudenken. Dabei gäbe es genug, worüber nachzudenken es sich lohnen würde: Über die Uni-Politik, wo kräftige Gebührensteigerungen angesagt sind, über die Renner der Elterngeneration wie den amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag oder die Zwangsenteignung von Privatgrundstücken für das US-amerikanische Militär.

In den Vorlesungspausen schallen zwar aufgeregte Lautsprecherparolen über den Campus, richtig zuhören aber tut kaum jemand, abgesehen von einem Dutzend treuer Anhänger, die buntbemalte Transparente hochhalten. Wie denkt die schweigende Mehrheit darüber? Ich fragte einmal nach. „Mich geht das alles nichts an“, hörte ich mehrmals. Die Krönung aber war: „Die machen so 'nen Krach, daß ich mein Handy nicht klingeln höre.“

Eine klassische Frage lautet: „Wieso soll man überhaupt Japanisch lernen?“ Mit vier englischsprachigen Tageszeitungen, zweisprachiger Ausschilderung der meisten Bahnhöfe und Englisch als Bildungsobsession Nummer eins kommt man prima ohne Japanisch aus. Doch ohne die Sprache kann man das Land nicht begreifen. Versteht man sie, erlebt man zwar keine exotische Offenbarung der geheimnisvollen japanischen Seele (allen Gerüchten zum Trotz gibt es so etwas gar nicht), doch man kann sich ein eigenes Urteil bilden, sowohl über die interessanten Seiten als auch über die ganz normalen Banalitäten, die es auch hier in Hülle und Fülle gibt. Ian Barwick, Tokio