Entzauberung durch Knochenfunde

■ Schaulust: Das Gerhard-Marcks-Haus macht mit Kunst, Curryfarbe und einem klugen Konzept Appetit auf Moore

So leicht ist ein Kunst-Werk zu entzaubern. Man nehme eine Skulptur – wie die 1975 entstandene „Liegende Figur“des weltberühmten Bildhauers Henri Moore – und baue nebenan ein Regal für Hinterlassenschaften aus dem Atelier des toten Meisters – hier für Tierknochen, Steine, Schädelstücke, Muscheln – auf. Und eiderdaus: Die „Liegende“sieht einem Knochen verdammt ähnlich. Und andersherum kann so ein Fundstück aus der Fauna ganz schön menschenähnlich sein. Die größte Künstlerin ist und bleibt die Natur, lehrt Henri Moore, lehrt das Gerhard-Marcks-Haus, das ab Sonntag mit den Attributen „erstmals“und „Animals“sowie einer Ausstellung aufwartet.

Möglicherweise sind Sie der echten – lebenden – und der falschen – bronzenen – Schafe auf der Wiese vor der Kunsthalle schon ansichtig geworden und haben erlebt, wie es die Springlebendigen den im Vorspiel erstarrten aus Metall gleichtun. Möglicherweise ist Ihnen auch der „Buten und Binnen“-Beitrag zum Thema nicht erspart geblieben, in dem ein Schäfer am Rande der Bloßstellung entlang- bis vorgeführt wurde. Zusammen mit dem warmen Südwestwind verwandelt Moore Schafe und Menschen offenbar in Triebtäter, was dem ×uvre des 1986 im Alter von 88 Jahren verstorbenen Bildhauers eine völlig neue Note gäbe: „Bremen. Mysteriöse Vorgänge am Rande der Henri-Moore-Ausstellung. Im Rahmen der Ausstellung von Tierplastiken des englischen Bildhauers (1898-1986) ist es zu drei öffentlichen Bloßstellungen von Schäfern und einem Babyboom unter Schafen und Menschen gekommen“, könnte eine dpa-Meldung überschrieben sein. Schauen wir nach, denn Sie warten auf Fakten, und die sind nüchtern.

Bremen. Tierplastiken des großen englischen Bildhauers Henry Moore (1898-1986) werden ab Sonntag (12.) in der Bremer Ausstellung „Animals“präsentiert. Bis zum 25. Januar 1998 sind im Gerhard-Marcks-Haus 36 Skulpturen, 80 Zeichnungen, Radierungen und Modelle zu sehen. „Unsere Ausstellung ist die erste Annäherung an diesen intimen Schaffensbereich Moores“, sagte die Museumsleiterin Martina Rudloff am Donnerstag vor Journalisten.

Die bisher kaum gewürdigten Arbeiten reichten von gegenständlichen Tierporträts bis zu abstrakten Umsetzungen. Sie stammen vor allem aus der englischen Henry Moore Foundation und der Londoner Tate Gallery. Zu den Ausstellungsstücken gehört auch die tonnenschwere Großplastik „Sheep Piece“, die eigens mit zwei Tiefladern angeliefert wurde. Anschließend wird „Animals“in den Städtischen Museen in Heilbronn und im Georg-Kolbe-Museum in Berlin gezeigt. dpa

Was dpa verschweigt, ist das Geschick, mit dem die AusstellungsmacherInnen im Gerhard-Marcks-Haus die Triebe zügeln. Denn hinter der lebenslustig, genauer durch curryfarbene Wände und Aufbauten eingerichteten Ausstellung verbirgt sich wissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Erst nach dem Krieg habe sich Henri Moore mit der Tierplastik beschäftigt und dieses Thema mal vernachlässigt, mal wieder aufgenommen, erklärt Martina Rudloff. Dies ein Grund, warum nach dem Frühwerk, dem Spätwerk oder dem Thema „Mutter und Kind“die Werkgruppe der Tiere erst jetzt zum Ausstellungsthema wird. Doch das ist seltsam spät, wird doch gerade an Moores Tieren deutlich, wie er Kunst verstand.

Das Curry der Wände (und auch das des spaßig gestalteten Katalogs) coloriert die Didaktik nur, mit der Rudloff, ihr Kurator Ari Hartog und Co Appetit auf Kunst machen. Dem Regal mit den Fundstücken nämlich sind gleich im Eingangsbereich Plastiken und vor allem Zeichnungen zugeordnet, in denen Moore zwischen Beobachtung und Schöpfertum hin und her pendelte, Knochen vermenschte, kalten Stein beseelte und seinen Naturverstand in Form goß.

„Transformation“nennen die AusstellungsmacherInnen das und drücken das Wort der ganzen Schau als Stempel auf. Zwischen echtem Elefantenschädel und dem überraschend naiven Blick, mit dem der über 80jährige Tiere zeichnete; zwischen dem martialischen Atom-Piece und Arbeitsmodellen seines Sheep-Pieces wächst trotz der gewollten Entzauberung die Schaulust daran, wie Moore auf seine Art das Innere nach außen kehrte und moderne Abstraktion und „traditionelle“Naturbeobachtung verband. Christoph Köster

Henri Moore, „Animals“, vom 12. Oktober bis 25. Januar im Gerhard-Marcks-Haus, Eröffnung am Sonntag; Öffnungszeiten dienstags bis sonntags 10-18 Uhr; Katalog 48 Mark