Der russische Robert Capa

■ Der Fotograf Jewgeni Chaldej ist in Moskau im Alter von 80 Jahren gestorben

Sein Leben in den letzten Jahren, das war ein 15-qm- Zimmer in einer Moskauer Großsiedlung. Es war Wohn- und Schlafzimmer, Dunkelkammer, Archiv, Telefonzentrale. Vier Leitz-Focumat-Vergrößerer standen da, daneben ein Schrank aus Karteikästen, alle randvoll mit Fotos. Mitten im Zimmer ein Nachtschrank, darauf das Telefon. „Er hat bis zur letzten Minute gearbeitet“, sagt seine Tochter Anna über ihren Vater, den russischen Fotografen Jewgeni Chaldej. Der 80jährige starb am Montag nach einem Gehirnschlag.

Fotografiert hat Chaldej nicht mehr; er verkaufte seine Fotos, gab in den letzten Jahren zahlreiche Interviews über seine Arbeit als Kriegsfotograf, reiste zu Preisverleihungen. Sein letztes Foto machte er im Mai 1989 von Michael Gorbatschow bei der Mai- Parade. Den Mann zu fotografieren interessierte ihn noch, die Perestroika nicht mehr: „Heute gibt es doch nichts Wichtiges mehr zu fotografieren“, erklärte er.

Chaldej wurde am 10. März 1917 als Sohn jüdischer Eltern im ukrainischen Donezk geboren. Als er ein Jahr alt war, wurde seine Mutter bei einem Pogrom erschossen, er wurde verletzt: Sie hatte ihn auf dem Arm. Jewgeni wuchs bei seiner Großmutter auf. Nachdem er aus Karton und ihren Brillengläsern seinen ersten Fotoapparat gebastelt hatte, schenkte ihm die Babuschka eine russische Leica, die ihn fortan begleitete. Als Fotograf des Zweiten Weltkriegs arbeitete Chaldej für die Tass und begleitete die Rote Armee gut drei Jahre lang. Er verstand sich nicht als Dokumentarist, sondern als „Soldat mit Kamera“. Chaldej reichte Soldaten die Geschosse, steckte Häuser von KZ-Kommandanten in Brand und riß nach der Befreiung Juden die Sterne von der Kleidung.

Einige seiner bekanntesten Fotos hat Chaldej inszeniert. Eines machte ihn weltberühmt: Am 2. Mai 1945 hißten Rotarmisten auf dem Berliner Reichstag die Sowjetflagge. Die Flagge hatte Chaldej mitgebracht, nach dem günstigsten Standort hatte er mit den Soldaten gemeinsam gesucht. Nach Kriegsende fotografierte Chaldej bei der Potsdamer Konferenz, dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß und der Pariser Friedenskonferenz. In der UdSSR erhielt er den Großen Vaterländischen Orden. Trotz seiner Regimetreue wurde er 1949 als Jude von der Tass entlassen und konnte erst 1956 mit einer Anstellung bei der Prawda wieder einsteigen.

Viele der von ihm Fotografierten und die meisten seiner Freunde hat Chaldej überlebt. 1985 starb seine Frau Irina. Mit dem Rußland nach der Wende konnte sich der alte Mann nicht mehr anfreunden. Er zog sich immer mehr zurück, ließ es sich aber nicht nehmen, weiterhin alle Aufträge eigenhändig zu erledigen. „Im Westen“, sagte er einmal, „wäre ich Milliardär geworden.“ Im Osten reichten all sein Können und die Berühmtheit seiner Bilder gerade zur Aufbesserung der Rente. Bernd Siegler