Ein Schritt vorm Abgrund

■ Politisch vereinnahmt, finanziell vernachlässigt, programmlich verarmt - Spaniens öffentlicher Rundfunk hat wohl kaum eine Zukunft

Auf diesen Rekord ist keiner stolz. Radio y Television Española (RTVE) ist europaweit die teuerste öffentliche Rundfunkanstalt. 0,28 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschlingt der Sender mit seinen knapp 10.000 Beschäftigten jährlich, das ist doppelt soviel wie der europäische Schnitt. Trotz dieser Unsummen – allein 1996 waren es 2,2 Milliarden Mark – leidet RTVE unter Schulden von 4,8 Milliarden Mark. Seit der Zulassung privater Konkurrenz 1990 verlor das erste Programm über die Hälfte seiner Zuschauer. Das Publikum scheint RTVE vergessen zu haben, in der öffentlichen Debatte spielt es kaum mehr eine Rolle, und die Politik hält sich RTVE nur als Einflußobjekt. Die Anstalt steht nur noch einen Schritt vor dem Abgrund.

Dabei ist Spanien einer der lukrativsten Medienmärkte Europas. Antena 3, der Sender, der im Sommer vom regierungsnahen Telefonmonopolisten Telefónica übernommen wurde und mit Fußballrechten und Soaps der RTVE in den meisten Monaten die Marktführerrolle abgenommen hat, warf 1996 einen Nettogewinn von 60 Millionen Mark ab. Auch Italiens Silvio Berlusconi macht mit seinem Telecinco Millionengewinne. Nur werbefinanziert, so argumentieren die Privatfunker, produzierten sie ein Programm, für das die RTVE Milliarden verschlinge. Tatsächlich sind die RTVE-Programme, abgesehen von einigen Kultursendungen im 2. Programm, kaum von denen der Kommerzsender zu unterscheiden. Außer qualitativ – schließlich hat die RTVE weniger Geld.

Joaquin Leguina, für die sozialistische Opposition im RTVE- Aufsichtsrat, wirft den Chefs des Hauses Konzeptlosigkeit vor. Als Beweis dienen ihm die Geschäftsergebnisse der letzten 16 Monate. Seit der Konservative José Maria Aznar in Madrid regiert, haben sich die Schulden der Anstalt verdoppelt. Noch unter dem Sozialisten Felipe González lebte der Sender außer von Werbeeinnahmen hauptsächlich von staatlichen Zuschüssen. Die Konservativen dagegen hängten nach ihrem Antritt RTVE kurzerhand vollständig von den staatlichen Töpfen ab. Weil das Land unbedingt die Maastricht-Daten erreichen will, erlaubten sie RTVE einstweilen eine weitere Verschuldung bei den Banken. Wie das System einmal weiterfinanziert werden soll, ist völlig ungewiß.

Als der jetzige RTVE-Generaldirektor, Fernando López-Amor, und der TV-Chef Angel Martin Vizcaino benannt wurden, beschränkte sich ihre Medienerfahrung auf die ganz normaler Couchpotatoes. Als brave Parteigänger Aznars hatten sie der konservativen Madrider Verwaltung gedient.

Die Neuen machten sich ans Werk. Die Pläne, RTVE zu privatisieren, wie sie die Partido Popular (PP) noch im Wahlkampf propagierte, sind längst vom Tisch. Aznar und López-Amor haben ein viel ehrgeizigeres Projekt entdeckt: Digital-TV. Freilich weniger als Teilhabe an der TV-Zukunft denn als medienpolitische Spielfläche. Das begrüßt auch die sozialistische Opposition. „RTVE hat einiges an Inhalten beizusteuern“, ist sich Leguina sicher. Eigentlich hatte Frankreichs Pay-TV-Riese Canal +, dessen Tochter in Spanien mit fast eineinhalb Millionen Abonnenten erfolgreich ist, der RTVE ein Angebot gemacht. Da Canal + mit dem Sozialisten- freundlichen Medienkonzern Prisa (El Pais) verbandelt ist, wollte López-Amor davon nichts wissen. Canal + ist allein auf den Digitalmarkt vorgestoßen, die RTVE- Plattform Via Digital steckt ohne Senderechte immer noch in der Vorbereitungsphase. Leguina: „Das hätte sich verhindern lassen.“

López-Amor geht die Aufgabe selbstherrlich an. Interviewwünsche bescheidet er abschlägig, selbst mit Leguina will er nicht reden – der ist nicht nur Aufsichtsratsmitglied, sondern sitzt immerhin auch der parlamentarischen Kontrollkommission für Rundfunk und Fernsehen vor. Der RTVE-Aufsichtsrat wird ausschließlich von Parteivertretern beschickt – entsprechend den Mehrheiten im Parlament. Die RTVE ist Regierungssender aus Tradition: Nach Francos Tod wurde seine Konstruktion übernommen, nur daß das vom Diktator ernannte Gremium durch den parteienbeschickten Aufsichtsrat ersetzt wurde.

Als 1982 die Sozialisten in die Regierung kamen, wechselten über Nacht vom Nachrichtensprecher bis zur Showmaster alle Gesichter. Das wiederholte sich, als Aznar antrat. Mit der Begründung „RTVE riecht nach Naphtalin“, schickte López-Amor langjährige Mitarbeiter wegen falschem oder fehlendem Parteibuch zugunsten von Parteijournalisten aufs Abstellgleis. Nun plädiert Sozialist Leguina für ein öffentlich-rechtliches System mit der Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an der Kontrolle. „Doch das ist unrealistisch“, sagt er gleich. Wer in der Opposition ist, verlangt zwar regelmäßig eine Reform von RTVE. Einmal an der Macht, ist das vergessen. Ein Staatssender sei für die Regierung einfach zuverlässiger, so Leguina – „da machten auch wir Sozialisten keine Ausnahme“.

Eine Debatte um die Zukunft von RTVE flammte ein einziges Mal auf: Zur Zeit der Privatisierungsforderungen der PP. Doch seit auch die Konservativen die Freude daran entdeckten, einen zahnlosen Sender zu steuern, wird die Zukunft von RTVE einfach langsam vergessen. Reiner Wandler