Tricks aus dem Computer

Serie „Stets zu Diensten“ (5): Das „virtuelle Studio“ im High Tech Center Babelsberg – Job als Experiment  ■ Von Rolf Lautenschläger

Der Arbeitsplatz von Boris Götze (28) und Mathias Prcichensky (26) ist ein Anachronismus. In der großen alten Halle auf dem Filmgelände in Babelsberg haben sie sich ein Fernsehstudio eingerichtet – das keines ist. Zwar hängen noch Scheinwerfer an der Decke, Kameras und Monitore sind aufgebaut, Kabel laufen quer durch den Raum.

Doch dort, wo sonst die Kulissen und Requisiten für die Szene stehen, befindet sich nichts als ein großer, kahler Raum, der in helles Blau getaucht ist. Ein Teil des Studios gleicht einer Bastlerecke, die sich Technikfreaks eingerichtet haben könnten. Keyboards und Rechner türmen sich meterhoch, Bildschirme flimmern, Programme werden abgespult.

Leben kommt in die blaue Szenerie, wenn die beiden TV-Computertechnologen ihre Datenbank aus Graphiken, dreidimensionalen Räumen und Videos aktivieren. Dann zaubern sie auf ihren Bildschirmen ganze Welten, indem sie etwa Schauspieler in der leeren „Blue Box“ aus dem realen Hintergrund in einen virtuellen verpflanzen. Während der Akteur ein paar Meter weiter durch das leere Studio tapst, erscheint er auf dem Monitor im Dekors eingerichteter Zimmer oder läuft durch Häuser und Straßen. Damit der Schauspieler nicht vom virtuellen Bürgersteig herunterfällt oder gegen eine Wand poltert, kann er seine Bewegungen auf einem zweiten Monitor kontrollieren, in dem die computergestützen Kulissen ebenfalls zu sehen sind.

Boris und Mathias sind die „Macher“ des ersten „virtuellen Studios“ im High Tech Center (HTC) Babelsberg, das derzeit noch als Aufbauteam mit zwanzig Personen in den alten Klinkerbauten residiert. Die beiden „Quereinsteiger“ – Mathias arbeitete zuerst als Beleuchter und Kameraassistent, Boris als Bildelektroniker – „haben das Atelier mit Bastlerbudenimage zu einem High-Tech-Studio entwickelt“, wie Mathias betont, „das durch die Computertechnologie die Integration von realen und künstlichen Bildern in Echtzeit zuläßt“. Die virtuellen Bilder und Räume, die „computergenerierten Sets“, die Blue Box und die Installation der ORAD-Software haben sie rund ein Jahr lang „ausprobiert“, um aus der technischen Spielerei eine effektive und kreative Ausstattung zu machen.

Statt Bühnenbildnern für die Materialschlachten aus Holz und Pappe zieht beim Fernsehen nun eine neue Generation von Techniken und Technikern ein. Es sind die jugendlichen Computerfreaks, die ähnlich wie bei Bill Gates Microsoft-Unternehmen, an der Erschaffung künstlicher Programme bis tief in die Nacht tüfteln. Heraus kommen zwar noch keine Kinobilder mit der großen Brillanz des 35-Millimeter-Formats, für Werbeaufnahmen, Soap-operas oder Moderationen im Studio reicht es allemal. „Ein herkömmlicher Fernsehberuf ist das nicht mehr“, erklärt Mathias. Was im virtuellen Studio gebraucht werde, sei ein neuer Medienberuf – für den es noch keinen Namen, „aber auf jeden Fall eine Zukunft gibt“.

Um sich diese zu sichern, ist der Alltag der neuen Computer-Medienarbeiter geprägt von künstlichem Licht, Kaffee neben den Rechnern, Lötkolben, Programmen, Technik und einer Einsatzbereitschaft „über der Norm“. Gefragt sind, nach Einschätzung der Medien-Gewerkschaft, für den Job jüngere Mitarbeiter, die am stressigen Aufbau des Arbeitsplatzes selbst interessiert sind. Dafür nehmen sie, so ein Gewerkschaftssprecher, nicht nur durchschnittliche Bezahlung – zwischen 4.000 und 6.000 Mark brutto – in Kauf, sondern verzichteten auch auf soziale Leistungen und betriebliche Rechte wie Kündigungsschutz.

„Natürlich arbeitet man da mehr, als man müßte“, erzählt Boris, der einen HTC-Angestelltenvertrag in der Tasche hat. Der Charme des Experiments, die Laborsituation, die Einrichtung der Video-, Audio- und Computertechnik habe schon mal dazu geführt, „daß wir hier bis fünf Uhr morgens gehockt haben“. Jetzt gehe es darum, das virtuelle Studio zu perfektionieren, um qualitätvolle Film- und Fernsehproduktionen zu realisieren.

Die Zukunft der beiden Angestellten im HTC ruht auf potenten Betreiberschultern. In der traditionsreichen Filmstadt realisieren das HTC gemeinsam mit der Telekom, Bertelsmann und der Compagnie Général des Eaux derzeit einen 104 Millionen Mark teuren Neubau für das High Tech Center, in dem ab 1999 rund 40 Dienstleistungsfirmen angesiedelt werden sollen, mit Mitarbeitern im Experimentierfeld audiovisueller, digitaler und telekommunikativer Medienarbeit.

„Wir suchen Leute, die den Spagat zwischen Kunst und Computerelektronik machen können“, sagt HTC-Manager Christophe Maire. Deren Arbeitsplätze werden einmal in der drei Studios für elektronische Film- und Motion- Control-Aufnahmen sowie virtuelle Produktionen eingerichtet. Außerdem könnten Animationen und Spezialeffekte und computergestützte Nachbearbeitungen (Trick) von Filmen realisiert werden. Zugleich will Maire ein Institut aufbauen, in dem die virtuellen Filmemacher „produktionsbezogen lernen“, um der Konkurrenz Hollywoods standhalten zu können.

Es werde, sagt Maire, aber nicht nur eine neue Qualität von Bildern und Effekten erzeugt. Der Dienstleistungsbereich gehe über die Bereitstellung von Produktions- und Studioleistungen dergestalt hinaus, daß Produkte aus der Datenbank mittels Vernetzung weltweit versandt oder eingeholt werden können. So sei es vorstellbar, betont Maire, daß TV-Shows oder Filme gleichzeitig an verschiedenen Orten hergestellt werden könnten.

Denkbar wäre, Schauspieler am Ort X über das Datennetz in die virtuelle Kulisse am Ort Y einzuspielen. Aufnahme, Produktion, Akteure, Kopierwerk hingen nicht mehr unmittelbar zusammen. Interaktionen seinen nicht mehr an den konkreten Ort gebunden, sondern liefen im HTC als Zielort der Montage zusammen. Maire: „Das spart Kosten und bietet eine größere Freiheit für die Kreativität“.

Daß im interaktiven Medienmarkt die Arbeitsplätze nur kreative werden, bezweifeln die Kritiker. Vielmehr würden die räumlich verstreuten elektronischen Filmfertigungsstellen und ihre Mitarbeiter auf das Niveau, die Kosten und Netze der Anbieter gezwungen, ganz zu schweigen davon, daß das Produzieren in potemkinschen Dörfern die Realität immer mehr außen vor läßt.

Boris und Mathias müssen noch auf die großen virtuellen Produktionen warten, bei denen sie die Blue Box „brummen“ lassen können. Weil das elektronische Verfahren noch in den Kinderschuhen steckt, sind die Kosten für das Studio hoch. 18.000 Mark kostet ein Produktionstag. „Das ist noch verdammt viel“, sagt Mathias. Aber dafür sei auch verdammt viel möglich: Ohne Dekors kann man sich überall hinbeamen, fliegen ...