"Als wäre ich in Teheran"

■ Werbung für die neue Thora-Ausgabe, Frauen dürfen nicht ans Mikro - wie ein orthodoxes Radio in Tel Aviv überlebt

Sie tragen Jeans und Sweatshirt, der Chefredakteur kommt mit locker hochgekrempelten Hemdsärmeln ins Studio. Ein Mann, der den charakteristischen Hut, einen wehenden schwarzen Kaftanmantel und darunter lange Lockenzöpfe trägt, steht dagegen etwas verloren in der vom US-Style geprägten Redaktion des Tel Aviver Radiosenders Kol Chai herum.

Shlomo Sonnenfeld, als Techniker in dem Studio am Rande der Millionenstadt, sieht mit seinen zurückgelehnten Bewegungen aus, als käme er direkt aus Manhattan. „Ich habe früher für einige schwarze Rapstars in New York gearbeitet“, erzählt er. „Jetzt arbeite ich wieder für die Schwarzen.“ Shlomo Sonnenfeld lächelt.

Allerdings wirkt der 35jährige, der sich hinter den Mischpulten zurücklehnt und in gutem American English erzählt nicht eben, als würde ihm dies leichtfallen. Kein Wunder, denn Kol Chai ist nicht irgendein Radiosender, der die Charts rauf und runter spielt und auch kein Radio, wie es in Israel viele gibt: Ruhige Musik und viele Worte. Kol Chai sendet für ultraorthodoxe Juden. Seit Anfang des Jahres ist der Sender im Ballungsraum Tel Aviv on Air. Kol Chai ist Teil einer neuerwachten Aktivität der traditionellen und ultraorthodoxen Szene: Diese kümmere sich derzeit verstärkt um den Aufbau elektronischer Medien, sagt Shaul Meislisch, der Gründer und Chefredakteur des Senders.

Bislang waren die Orthodoxen lediglich auf dem Zeitungsmarkt vertreten. Der Schritt ins Radio sei eigentlich eine „Mission impossible“, sagt Shaul Meislisch, ein ruhiger gesetzter Mann mit offenem Blick, der seinen jährlichen Militärdienst bei einem der vielen (und erfolgreichen) Armeesender absolviert. „Zwar hatten wir vor dem Aufbau einer werbefinanzierten Radiostation natürlich eine genaue Marktanalyse der von uns sicher geglaubten Nische erstellen lassen“, sagt er, „doch sah die Prognose tägliche Einnahmen voraus, die wir heute mit 17 festangestellten und 25 freien Mitarbeitern gerade einmal im Monat erreichen.“

Einzige Einnahmequelle des Senders sind die halbstündig eingeblendeten Werbeblöcke, die in erster Linie von religiösen Unternehmern gefüllt werden, die koschere Produkte oder eine neue Thora- Ausgabe anpreisen.

Nicht nur die Kosten zur Etablierung des neuen Senders waren unterschätzt worden, auch die Reaktion der religiösen Zielgruppe auf die „Stimme des Lebens“ verblüffte die Gründer. „Die Kritik aus den Reihen unserer Hörer war dermaßen hart, daß ich mich so manches Mal fühlte, als wäre ich in Teheran“, bemerkt Meislisch.

Denn die orthodoxe Gemeinde schaltete „ihr“ Radio zwar bereitwillig ein. Doch sie hatte viel auszusetzen an dem Sender. Der fiel mit seinen verhalten liberalen Ideen dann auch ziemlich auf den Bauch. Man fühle sich in erster Linie dem Pluralismus verpflichtet und keiner religiösen Mission, hatten die Gründer gesagt. Prinzipiell sei im Sender keine Äußerung verboten, nur müsse sie die Gefühle anderer achten. Doch die äußerten sich wesentlich heftiger, als es üblicherweise beim israelischen Radio der Fall ist. „Bei einem religiös kritischeren Beitrag kann die Reaktion äußerst heftig sein: Statt der üblichen drei oder vier Hörerstimmen gibt es dann mindestens 400“, erklärt ein Redakteur. Das Programm hat sich wandeln, den Forderungen der Ultraorthodoxen anpassen müssen.

Zum Beispiel gibt es jetzt mehr Textbeiträge, die einerseits religiöse Themen behandeln, andererseits die Weltnachrichten aus orthodoxer Sicht darstellen.

Und auch die Musikauswahl mußte geändert werden. Shlomo Sonnenfeld stimmt das gar nicht glücklich. „Hier“, sagt er und zeigt auf einen kleinen Stapel CDs in der Ecke seines Studios, „das ist die Musik, die wir noch spielen dürfen: Schlager aus aller Welt mit religiösen Texten auf Hebräisch oder Jiddisch.“ Der Rest ist der strengen Zensur der Redakteure und ihres Publikums zum Opfer gefallen. Im allgemeinen Programm von Kol Chai sind von Frauen gesungene Lieder ebenso verboten wie solche, in denen es um Liebesbeziehungen geht. Irgendwelche ihm unbekannte Textstellen in der Thora seien dafür verantwortlich, seufzt Sonnenfeld. Der sieht das offenbar anders und versteht sich mit den weiblichen Angestellten des Senders auffallend gut – während er den einzigen anwesenden Ultraorthodoxen stets ein wenig skeptisch beäugt. Streng orthodox ist hier eben in erster Linie die Hörerschaft.

Die Redaktion sieht da auch nicht viel mehr als bescheidene Möglichkeiten: So wurde als Ausgleich für das ansonsten geltende „Frauenverbot“ eine Quote eingeführt – in Form einer täglichen Sendung am Vormittag, die die 24jährige Sarah Blau moderiert, und die redaktionsintern nur als „Ghetto-Programm“ bezeichnet wird. Da ist dann auch weiblicher Gesang erlaubt. „Das waren wir den Hausfrauen schuldig“, sagt Programmdirektor Meislisch.

Die erzwungenen Änderungen werden in der Redaktion offen diskutiert – in einer eigens angesetzten Diskussion stritten ultra- und gemäßigt orthodoxe Hörer vor einigen Monaten sogar live auf dem Sender erbittert um den Kurs. Jetzt sagt Shaul Meislisch: „Wir arbeiten für eine sehr kleine Zielgruppe, die aber so homogen ist, daß für sie das Gefühl entsteht, der Sender gehöre ihnen.“ Da ist es im Radio liberalen Beobachtern zufolge nicht anders als in der Politik: Die Religiösen tun und lassen, was sie wollen.

In den Gesichtern der Senderverantwortlichen haben die vergangenen zehn Monate dementsprechend deutliche Spuren hinterlassen – auch wenn sie mit einem Höreranteil von inzwischen 11 Prozent im Großraum Tel Aviv durchaus zufrieden sein können. Zumal von einem Schiff auf hoher See illegal das national-religiöse Arutz Sheva (Kanal 7) in die zweitgrößte Stadt Israels sendet. Bei Kol Chai seien immerhin 10 Prozent der Hörer gar nicht religiös, betont Meislisch immer wieder.

„Ghetto“-Moderatorin Sarah Blau gehört zu jenen, denen das Lachen in den engen Räumen über der Autowerkstatt am Rande von Tel Aviv nie zu vergehen scheint. Mit ihrem selbstbewußten Grinsen und offenem schwarzen Haar wirkt auch sie eher amerikanisch – versteht sich aber als Orthodoxe. So interessiert vertieft sie sich in die Diskussion mit dem Besucher, daß sie für einige Sekunden ihren Einsatz verpaßt – kleine Sendepause bei Kol Chai.

Doch so etwas passiert selten: Aktuelle Nachrichten, die während der Sendung hereingereicht werden; ein Politiker, der, eben angerufen und um ein Interview für das mittägliche Nachrichtenmagazin gebeten, bereits zwanzig Sekunden später live auf Sendung geht, ohne daß übertriebene Hektik aufkommt. „Everything is possible in the Middle East“, heißt es im Sender wie überall in Israel immer wieder.

Diese Lakonie kommt auf die eine oder andere Weise an. Dem etwas gequälten Blick des jungen Technikers Shlomo Sonnenfeld ist das deutlich anzusehen, als er sagt: „Was ich in meiner Freizeit für Musik höre? Das darf ich hier gar nicht laut sagen.“ Peer-Arne Böttcher