Fabelhafte Fernsehdichte

Echte Rebellen, Videokannibalen und Serienküsser, Netzwachstum und Obdachlosen-TV: Auf der Digitale '97 in Köln ist dieser Tage die Entwicklung der neuen Medien am Beispiel Brasiliens das Hauptthema  ■ Von Nils Röller

Brasilien ist ein Land der Glücksritter. Man feiert die Goldsucher im Erdloch der Sierra Pelaga, aber auch die Lebensgeschichte des digitalen Glücksritters Hans Donner, der mit seinen Computergraphiken „Rede Globo“, dem viertgrößten Network der Welt, eine moderne visuelle Identität verlieh: „Im vergangenen Karneval führte eine Sambaschule aus São Paulo seine bewegte Lebensgeschichte unter dem Motto ,Hans Donner – der Magier und sein Universum‘ mit 4.000 Tänzern auf“, so der Bericht von Isabel Maria Hahn im Medien Bulletin 6/97.

Der Feier des Computerhelden stehen allerdings die schlechte Struktur der Medienausbildung und die jahrelang verzögerten Investitionen in digitale Technologien gegenüber. Zwar ist die Fernsehdichte in dem Land mit ca. 160 Millionen Einwohnern und 37,8 Millionen Haushalten fabelhaft für die Fernsehindustrie, doch stehen Telefone und Computer nur wenigen zur Verfügung. Die Chance zur elektronischen Interaktivität bleibt der Wirtschaft und der Oberschicht vorbehalten.

„Virtuelle Telefone“, in denen Nachrichten gesammelt werden, sind bescheidene Versuche, dem Gros der Bevölkerung Telekommunikation anbieten und nicht nur ihre Fernsehlust zu bedienen. Die Regierung versprach 1996 den Ausbau der Infrastruktur, und tatsächlich verzeichnet die Internationale Fernmeldestatistik im März 1997 (Siemens) eine Zuwachsrate von 8,9 Prozent, doch hat Brasilien im Vergleich zu Lateinamerika nach wie vor die niedrigste Leitungsdichte bezogen auf die Einwohnerzahl – wer einen Telefonanschluß verlangt, muß für die Bereitstellung der Leitung das Zehnfache eines Mindestarbeitslohns zahlen. Das Gros der Telefonanschlüsse befindet sich in São Paulo, und das ist nicht nur ein Zeichen der Landflucht, sondern des Wirtschaftswachstums der Stadt, die neben Mexico City und Tokio mit ca. 16,5 Millionen (Großraum São Paulo) zu den größten Menschenansammlungen der Erde zählt. Wer sich aber kein Telefon leisten kann, wird auch kein Geld für einen Computer haben, ebensowenig für eine Videoausrüstung.

In den Sendeanstalten stehen digitale Effekt- und Schnittgeräte, doch der Computer ist längst noch kein Massenmedium geworden. In Hotels und Restaurants wird er als Statussymbol und bessere Schreibmaschine gepflegt, ohne daß Anschlüsse an eine elektronische Kommunikationskultur sichtbar werden. Oft sind es Garagencomputer, die aus geschmuggelten Einzelteilen gebastelt wurden – eine Folge der Einfuhrbeschränkung, die das Militär Anfang der 70er Jahre verhängte. Eine Computerisierung der Gesellschaft wurde damals nicht gewünscht; und auch heute ist es nicht das Ziel der Bildungspolitik eines Landes, in dem große Teile der Bevölkerung nicht lesen und schreiben können.

Unabhängig davon hat sich seit Beginn der 80er Jahre in São Paulo ein Forum für elektronische Kunst etabliert, das zwar nicht von Sambaschulen gefeiert wird, aber ein Ansporn für freie Künstler und Produzenten aus Südamerika ist, eigene Wege zu suchen. Seit 1983 richtet Solange Farkas das Festival „Videobrasil“ aus; es ist in diesen 14 Jahren zu einer festen Adresse für elektronische Bildhersteller auf dem gesamten südamerikanischen Kontinent geworden. Zum Wettbewerb werden ausschließlich Produktionen der südlichen Hemisphäre zugelassen. Die Jury ist dennoch ausgewogen besetzt, und Panoramen – von Gastkuratoren wie Hermann Noring (European Media Art Festival Osnabrück) zusammengestellt – oder Retrospektiven von Nam June Paik und Bill Viola sichern die Verbindung zum Norden.

Solange Farkas begann „ihr“ Festival, dessen Ausstellung im vergangenen Jahr 35.000 Besucher zählte, im Zeichen der „Abritura“ als der Vater des Cine Nuovo, Glauber Rocha. Er schickte mit dem Titel „Öffnung“ eine Fernsehreihe über Folter und Diktatur in den Äther, die selbst militärnahe Fernsehmacher attackierte, die im Umkreis des Medienmoguls von Rede Globo, dem 93jährigen Roberto Marinho, arbeiteten. Militärnahe Fernsehsender bildeten früher auch das Klima, aus dem Gruppen wie „Olhar Eletronico“ heraus ihre Videoausrüstung in Japan kauften und mit eigenem Equipment auch eigene Reportageformen suchten. Sie engagierten einen Obdachlosen als Journalisten, sie interviewten die militärnahen Fernsehjournalisten von TV Globo zu televisuellen Wahlkampftaktiken oder reisten mit Marcelo Tas in die Goldmine der Serra Pelada, einem Erdloch, in dem 100.000 Männer Gold schürften. Gruppen wie TV Zero oder TVDO berichteten über religiöse Massenspektakel in Stadien und bereiteten Wege für neue elektronische Sendeformen.

Die Ursprungsgruppen vom Beginn der 80er Jahre existieren heute nicht mehr. Ihre Mitglieder arbeiten mittlerweile in Werbeagenturen oder erhalten Aufträge von den großen Sendern. Lediglich Eder Santos und Emvideo haben sich gehalten. Die Innovationen, die der Künstler aus Belo Horizonte einführte, wurden beim brasilianischen MTV erprobt, aber dann schnell auch von Rede Globo adaptiert.

Dieses Interesse nützt seiner Produktionsfirma, während den Videokünstler in seinen Installationen, Performances und Filmen die Verlangsamung der Bildgeschwindigkeit beschäftigt.

Beispielhaft dafür ist der 15minütige Videofilm „Janaúba“, der ursprünglich für eine Installation in einem Steakrestaurant konzipiert wurde: Ein langsamer Ritt durch die Karstlandschaft bei Belo Horizonte. Hier wird der elektronische Bildtakt so reduziert, daß die aufgezeichneten Bewegungen dem Zögern handbetriebener Kameras ähneln, mit denen zwei Väter des brasilianischen Films, Humberto Mauro und Mario Peixoto, drehten.

Carlos Nader bekennt sich ebenfalls zur Verlangsamung und zur Verzögerung gewohnter Rhythmen. Ihn beschäftigt der Kannibalismus der Videokameras, die gleichzeitig sehen und das Gesehene fressen müssen.

In seiner Reportage „Beijoqueiro“ (Der Serienküsser) lebte er einen Monat mit einem Mann zusammen, der keine Sicherheitsbeamten scheut, wenn er die Chance wittert, vor der Kamera einen der Großen dieser Welt wie Pele, George Bush, den Papst oder Frank Sinatra zu küssen. Nader erlebte und dokumentierte die Prügel und Strafen, denen sich der Küsser aussetzte, um aufgenommen zu werden. Nur den Kuß selbst filmte er nicht.

Mit einem geringen Budget und drei Schichten an einem nichtlinearen Schnittplatz haben Maria Oliveira und Martha Nehring ihren Film „15 Filhos“ fertiggestellt. Die beiden Regisseurinnen sind wie die 13 anderen „filhos“ Kinder von Oppositionellen, die während der Militärregierung gefoltert und in den Gefängnissen zu Tode kamen.

Vor der Kamera erzählen sie, was ihnen von den Eltern geblieben ist: Erinnerungen an das zerschlagene Gesicht der Muttter, Signaltöne im Gefängnis, das Pfeifen des Vaters, wenn er denn einmal nach Hause kam. Der Film von Nehring und Oliveira führte zu einer lebhaften Diskussion, doch ihr schnelles Verebben bestätigt, daß in Brasilien die Alltagsprobleme nach wie vor wenig Zeit zur Vergangenheitsbewältigung lassen.

In São Paulo streikt die Zivilpolizei für höhere Löhne und demonstriert gemeinsam mit den Landlosen, die eine längst fällige Agrarreform einfordern. Politische Aufmerksamkeit erhielten diese Landarbeiter, als sie im April dieses Jahres einen Sternmarsch über acht Wochen und Tausende von Kilometern nach Brasilia organisierten. Trotz Presse, Fernsehen und Internet – die physische Präsenz wird auch in den nächsten Jahren ihr entscheidendes Ausdrucksmittel bleiben.

Digitale '97. 1. bis 3.10. im Museum Ludwig, Köln. Heute zeigt Solange Farkas eine Auswahl brasilianischer Videokünstler