Sägen an der Vier-Säulen-Politik

Morgen stimmen die SchweizerInnen über eine von rechten Gruppierungen inszenierte Anti-Drogen-Initiative ab. Sollten die BefürworterInnen Erfolg haben, läge die liberale Schweizer Drogenpolitik in Trümmern  ■ Von Bernd Pickert

Berlin (taz) – Sonderlich beliebt sind sie nicht, die InitiatorInnen der Volksabstimmung „Jugend ohne Drogen“. Die Initiative, über die 4,6 Millionen Schweizer morgen abstimmen sollen, will den Staat per Verfassungsänderung auf eine „restriktive, direkt auf Abstinenz ausgerichtete Drogenpolitik“ verpflichten. Dahinter stehen unter anderem die Anti-Drogen-Fanatiker der rechten Psychosekte „Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis“ (VPM), die Vereinigung Katholischer Ärzte und die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP).

Wenn die Initiative Erfolg hätte, würde ein einzigartiger Versuch unterbrochen, der bei Drogenpolitikern im In- und Ausland auf Anerkennung und Interesse gestoßen ist. Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) etwa kam zu dem Schluß: „Die Ergebnisse des schweizerischen Versuchs sprechen dafür, die deutsche Drogenpolitik in dem genannten Sinne zu verändern.“

Im November 1992 hatte der Schweizer Bundesrat einer Versuchsreihe zur ärztlich überwachten Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige zugestimmt. Damit wurde die vierte „Säule“ der seit 1991 verfolgten Drogenpolitik auf den Weg gebracht: Zu Prävention, Therapie und Repression – erst Anfang 1992 war die offene Drogenszene am Züricher Platzspitz geräumt worden – kam jetzt auch die „Überlebenshilfe“.

Es dauerte nur ein paar Wochen, bis die Verfechter einer repressiven Drogenpolitik sich mit der Initiative „Jugend ohne Drogen“ zu Wort meldeten. Im Juli 1993 hatten sie für ihr Volksbegehren 140.000 Unterschriften beisammen – genug, um eine Volksabstimmung zu initiieren.

1994 begann dessen ungeachtet der Pilotversuch. In 18 Schweizer Städten wurden insgesamt 1.146 Schwerstabhängige in das Programm aufgenommen. Zugelassen waren Süchtige über 20 Jahren, die seit mindestens zwei Jahren heroinabhängig und dadurch sozial oder gesundheitlich geschädigt waren und bereits erfolglose Behandlungsversuche hinter sich hatten. Sie erhalten seither eine tägliche Heroindosis in staatlichen Abgabestellen. Der Stoff muß direkt dort gespritzt werden.

Als im Juli dieses Jahres – der Termin für die morgige Volksabstimmung stand längst fest – das Bundesamt für Gesundheitswesen eine Studie über die Ergebnisse des Projektes veröffentlichte, übertraf der Erfolg die Erwartungen. Die gesundheitliche Situation der Abhängigen hatte sich deutlich verbessert, die Arbeitslosigkeit in der Versuchsgruppe war von 44 auf 20 Prozent gesunken, niemand war obdachlos geworden. Die Zahl der Delikte reduzierte sich schon im ersten Behandlungsjahr um 60 Prozent – so daß sich das Projekt sogar volkswirtschaftlich rechnete: Rund 54 Mark normalerweise durch Strafuntersuchungen, Krankenhausaufenthalte und Gefängnishaft pro Tag und Person verursachte Kosten wurden eingespart.

Im gleichen Zeitraum kamen freilich auch die anderen „Säulen“ der Drogenpolitik nicht zu kurz: Im Februar 1995 etwa ließ die Zürcher Verwaltung unter großem Hurra-Geschrei der Boulevardpresse den Letten-Bahnhof räumen, die letzte große offene Drogenszene der Schweiz.

Vielleicht liegt es an dieser Mischung, daß die „Vier-Säulen-Politik“ heute eine allgemeine Akzeptanz genießt – einschließlich der Heroinabgabe. „Die einzelnen Säulen“, schrieb die des Linksliberalismus unverdächtige Neue Zürcher Zeitung, „bedingen sich gegenseitig. Wer sich nicht länger hinter Vorurteilen und Dogmen verschanzt, müßte sich unter dem von diesen Pfeilern getragenen Dach einfinden können.“ Der Schweizer Bundesrat bezieht sogar in seinem Faltblatt zur Information über die morgige Abstimmung gegen die Initiative Stellung. Nach dem Willen der Regierung soll der Modellversuch im nächsten Jahr verlängert werden.