Private Bankrotteure

■ Im Osten sind prozentual mehr Menschen verschuldet als im Westen

Berlin (taz) – Die Ostdeutschen haben die Westdeutschen im Eiltempo überholt, zumindest wenn es darum geht, über die eigenen (Finanz-)Verhältnisse zu leben. Bereits vier Jahre nach der Wiedervereinigung waren in den neuen Bundesländern prozentual mehr Menschen überschuldet als in den alten. So das alarmierende Fazit einer vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebenen Studie, die gestern der Fachöffentlichkeit vorgestellt wurde.

Fast 500.000 Privathaushalte in Ostdeutschland sind faktisch bankrott und stehen bei mindestens einem Gläubiger in der Kreide. Tendenz steigend. Im Vergleich zu Westdeutschland sind im Osten überproportional viele alleinerziehende Frauen und Familien mit Kindern hochverschuldet. Hauptursache des privaten Konkurses ist nicht etwa ein übermäßiger Konsumrausch, sondern steigende Arbeitslosigkeit, gepaart meist mit familiären Brüchen.

Anhand von statistischen Daten und Erhebungen bei Schuldnerberatungen, Wohnungsgesellschaften und Energieversorgungsunternehmen hat das Institut für Grundlagen- und Programmforschung Marktverhalten und Überschuldungssituation im Osten untersucht. Fazit der 300 Seiten starken ersten Studie dieser Art: Die Ostdeutschen haben nach der Wiedervereinigung „sehr verhaltenskontrolliert“ ihren Nachholbedarf an Konsumgütern gedeckt. Die Angst, Schulden zu machen, war eher groß. Dennoch haben seit der Wende 67 Prozent der ostdeutschen Haushalte einen Kredit aufgenommen, in der Mehrzahl für das neue Auto. Jeder zweite Haushalt hatte 1994 monatliche Kreditverpflichtungen von rund 520 Mark am Hals. Im Schnitt schieben die ostdeutschen Haushalte einen Schuldenberg von stattlichen 46.000 Mark vor sich her. Die Höhe der privaten Schulden pro Haushalt ist damit zwar deutlich geringer als in Westdeutschland, gleichzeitig können sich die Ostdeutschen nur auf ein geringes Finanzpolster stützen, um Kredite oder Raten abzuzahlen. Ihr Sparvermögen beträgt gerade mal ein Drittel dessen, was Westdeutsche auf der hohen Kante haben. Das Geldvermögen in Ostdeutschland entspricht dem bundesrepublikanischen Niveau der siebziger Jahre.

Arbeitslosigkeit, Scheidung oder Krankheit führen deshalb in den neuen Ländern schon innerhalb kurzer Zeit zur Zahlungsunfähigkeit. 1994, so die Studie, waren bereits sieben Prozent aller Haushalte überschuldet, zwei Prozent mehr als in den alten Bundesländern.

Ostdeutsches Spezifikum: Besonders hoch ist der Anteil der „Primärschulden“, der Zahlungsrückstände bei Miete und Strom. Da diese zu DDR-Zeiten ohne Folgen einfach toleriert wurden, herrsche auch heute noch „eine gewisse Gleichgültigkeit“, so die Studie. Dies kann jetzt dramatische Folgen haben: Rund 400.000 Haushalte in den neuen Ländern haben Mietschulden, für 15.000 Mieter hatten sie sich bereits so angehäuft, daß es zu Räumungsklagen kam. Verschärft wird die in der Studie als „gravierend“ titulierte Situation dadurch, daß das Netz der Schuldnerberatungsstellen in den neuen Ländern immer mehr Löcher bekommt. Bisher wurden die meisten Beratungsstellen über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert. Vera Gaserow