Call a Callas

Sirenengesang mit Teufelszungen: Helmut Kraussers Beelzebubenstreich „Der große Bagarozy“  ■ Von Thomas Groß

Gott, Tod, Musik, der Teufel und die tiefe blaue See – darunter macht's Helmut Krausser einfach nicht. Obwohl es diesmal ganz piano losgeht. Kommt ein Mann zur Therapeutin. „Ich war wie die anderen“, erzählt er harmlos. „Keine sehr harte Kindheit, keine sehr reichen Eltern. Keine harten Drogen, kaum Neurosen, wenig Talent. Vorstadt eben.“

Ein Mann ohne besondere Eigenschaften außer einer: Stanislaus Nagy, wie er sich nennt, hat eine Callas-Macke. Seit ihm vor zehn Jahren auf einer Gartenparty – sozusagen als Geist aus dem Kassettenrecorder – die Diva in einem weißen Kleid erschien, sammelt er nicht nur sämtliche Aufnahmen, die je von ihr gemacht wurden, er wandelt auch nachts in Stadtparks auf den Spuren der Angebeteten.

Kein uninteressanter Fall für die erfolglose Psychoanalytikerin Cora Dulz, die bereits zwei Patienten durch Selbstmord verloren hat und mit herzkrankem Mann und zwei kastrierten Katern ein Reihenhaus bewohnt. Aus Neugier läßt sie sich von Nagy, dem unheimlichen Einzelgänger, einladen, folgt ihm in die dunklen Viertel, in Kaufhäuser und postmoderne Absinthschänken, stößt in seiner Rede aber auf immer seltsamere Maskeraden, denen auch mit katathymischen Bildertests und Tonbandmitschnitten nicht beizukommen ist. Die eigentliche Pointe dieses Settings steht ihr noch bevor: Auf Seite 48 outet Nagy, der Armani trägt, sich en passant als der Leibhaftige, der Ariman – „na ja: – der Teufel – was man so nennt...“

Ein Simulant? Oder Angeber? Krausser kurbelt das Geschehen über die Dialoge voran, in denen Psychoanalytikerin und armer Teufel sich sprechend und schreibend ein Methodengefecht liefern. Es ist ein Interpretationskampf um die Natur des Begehrens, das wahre Wesen der singenden Marien- und Medienerscheinung Callas. Zerfließt Nagy im Text, fixiert Dulz das, was sie für den Subtext hält. Greift sie zum Tonband, agiert er kaltkriegerisch, indem er mit der Sprechstundenhilfe schläft. Glaubt sie, ihn gefaßt zu haben, wechselt er zum Brief. Zückt sie die Fußnote, spreizt er den Bocksfuß. Und während er auf der mythischen Macht des Gesangs beharrt – „Es ist ein Gottesdienst, jetzt merke ich es, es ist ein gottverdammter Gottesdienst!“ –, will sie ihm immer noch mit Familienromanen ans Leder: Therapy for the devil.

Beelzebübisch vertrackt beerbte Religiosität im Clinch mit einer Aufklärung, die ihr Helfersyndrom nicht abstreifen kann – kein schlechter Stoff für einen zeitgenössischen Roman. Nähme Krausser seine eigene Personnage nur ernster! Doch Dulz, die Duldsame, ist ihm nur eine Psychotante, an der er ein Exempel statuiert. Als Vertreterin des Juste-milieu, all der „wohlstandsdepressiven Langweiler“, die das große Andere mit ihrem Gerede behelligen, muß sie sich natürlich heillos in den melancholisch gewordenen Teufel verlieben, der im Gegenzug zu immer mephistophelischerer Form aufläuft. Bald fährt er in den Pudel der Callas, bald beherbergt er Gott in einer Tiefkühltruhe. Er schwingt Reden über Zeitläufte und Weltgeister oder verwandelt sich in den „großen Bagarozy“, der in einem staubigen Varieté seine Künste feilbietet.

Von Botho „Bocksgesang“ Strauß trennt die sich in Schönheit ausdünnende Story gegen Ende nur noch ein gehobener Burleskenton, der verzweifelt nach Anschluß an die Weltliteratur sucht: Goethe, Grillparzer, Schnitzler, Poe – alles mit drin im Mix. „Der große Bagarozy“ ist eine zum Roman aufgeschickte, günstig um den zwanzigsten Todestag von Maria Callas herum plazierte, aber verspätete Künstlernovelle. Nagy/Bagarozy, der Mann in der postmodernen Menge, steht nämlich – Grundgütiger! – im Bunde mit dem Dionysischen. Der „Oralverkehr“, um den es verschiedentlich geht, formuliert sich als Sexualtechnik, die der Heiligkeit des Erzählens ein letztes Schlupfloch gewährt. Und in der Maske der Callas betritt der gute alte Sirenengesang noch einmal die verworfene Bühne.

Kunst sticht schnöde Wissenschaft im Dienste des Realitätsprinzips, sie ist die Erbin der Auflösungsmächte Eros und Tod – das ist die schlichte, bereits in Kraussers Großepos „Thanatos“ beackerte Botschaft dieses 180-Seiten- Romans. Und weil er selber ahnt, daß das dürftig ist, flüchtet Krausser kurz vor Schluß noch einmal furios nach vorn. „ES IST NICHT WAHR! DU BIST KRANK, WIR SIND GESUND!“ läßt er den Helden deklamieren. „Worin läge solcher Gesundheit Reiz? Wo deren Schönheit? Einmal war mir die Erde ein Fest, ein Ballsaal, unendlicher Spielraum, nächtliches Kaufhaus. Und jetzt? Wir sind schwarzweiße Comic-Helden, Floskeln, die man von Ohr zu Ohr durch eine große Leere wirft.“ Hier tritt er in prachtvollster Stilblüte hervor, der Geniestreberton, das O-Mensch-Pathos von anno dunnemals, das umstandslos nach dem Metaphysischen greift, aber aus dem Kunsthandwerk nicht rauskommt. Mit solchen Volten hat der Autor bereits hochkritische Feuilletongeister betört. Dabei ist Krausser in all seiner selbstgedrehten Echtheitsprätention doch auch nur ein Kind des Pop. „Zwangspoetisierte Wolken hingen willenlos im Himmel“, heißt es an einer Stelle, und es klingt wie das Geständnis eines Scharlatans, hat aber auch viel von Kino, Breitwandeffekten, Sensurround. Krausser-Romane sind wie das Popcorn zum Hauptfilm: nicht das, was sie versprechen, aber passagenweise nicht unlecker. In der Not frißt der Teufel eben Fliegen.

Helmut Krausser: „Der große Bagarozy“. Rowohlt 1997. 184 Seiten, 32 DM