Das Gift verdünnen

Wöchentlich treffen sich traumatisierte Männer aus dem ehemaligen Jugoslawien zur Selbsthilfegruppe  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Jemand hat Pflaumenkuchen mitgebracht, Dzemal schenkt Kaffee aus. Mujo scherzt mit seinem Nachbarn. Dann schließt sich die Tür, und eine eigentümliche Stille schwebt durch den Raum. Was die dreißig Männer äußerlich eint, ist die Sprache und die Marlboro- Schachtel, an der man sich festhalten kann. Was sie innerlich verbindet, weiß jeder. Darüber müssen sie nicht reden. Aber vor allem zum Reden kommen sie hierher, jeden Donnerstag ins Südosteuropa-Kulturzentrum in Kreuzberg.

Das Reden schafft Erleichterung und belastet doch immer wieder. Manchmal beginnt einer der Männer zu weinen, und ein anderer zittert. Dann wird die Stille zur Andacht, zur wortlosen Erinnerung an die Hölle. Sie trägt viele Namen, zumindest zwei kennt die Welt: Srebrenica, Omarska.

Seit Mitte März treffen sie sich einmal die Woche – ehemalige Insassen und Überlebende der Konzentrationslager im ehemaligen Jugoslawien. Bosnische Muslime und Kroaten versuchen – unabhängig von Nationalität, Alter und Religion – sich selbst zu stützen. Für Therapeuten, die ihr Trauma lindern könnten, fehlt das Geld. Meist liest einer einen handgeschriebenen Bericht vor, die Chronologie des eigenen Leidens. Einige verkraften nicht, das Geschriebene selbst vorzulesen, dann tut es der Tischnachbar für sie. Andere erzählen von ihren Alpträumen, in denen immer wieder Ameisen oder Insekten vorkommen. Die kribbeln so wie die Nerven.

Jedes Treffen ist eine kleine Gratwanderung: Bringt das Reden über die Vergangenheit Erleichterung? Verstärkt es das Trauma? „Die Gruppe“, sagt Marko aus Brčko, „ist unsere Rettung, dadurch weiß ich, daß ich nicht alleine bin. Zumindest in der Zeit, in der ich hier bin, fühle ich mich entlastet. Nur wenn ich dann am nächsten Tag zur Ausländerbehörde muß, ist alles wieder da.“

„Ausländerbehörde“ ist ein Schlüsselwort, „Sozialamt“ ein anderes. Das dritte Wort heißt Kränkung. „Wir sind durch die größten Qualen gegangen“, sagt Aziz, der Begründer der Gruppe, „und von den Behörden werden wir verhöhnt.“ Der ehemalige Mathematiklehrer kann seine Lagerhaft nachweisen – so wie alle in der Gruppe. Er hat seinen Ausweis vom Internationalen Roten Kreuz gezeigt, andere die Belege vom UN-Flüchtlingskommissariat, daß man sie aus einem Lager befreite. Und fast alle haben ärztliche Atteste, die von den körperlichen und psychischen Folgen ihrer Gefangenschaft zeugen. „Aber wenn wir zum Sozialamt gehen oder zur Ausländerbehörde, heißt es: Das interessiert uns nicht.“

Traumatisierte Kriegsflüchtlinge sollten an letzter Stelle im Zeitplan der verordneten Rückkehr nach Ex-Jugoslawien stehen. Das haben die Innenminister von Bund und Ländern immer wieder erklärt. Aber die Praxis, zumindest in Berlin, sieht anders aus. Erst wenn die Traumatisierung vom Gesundheitssenat attestiert ist, gilt sie als erlitten. Doch die mit der Prüfung beauftragte Behörde ist überlastet. Die Folge: Selbst diejenigen, die bislang eine Aufenthaltsbefugnis für Deutschland hatten, bekommen nur noch eine Duldung, die mit immer kürzeren Fristen versehen wird, erst für sechs Monate, dann für drei, jetzt nur noch für einen Monat. Die ersten aus der Gruppe haben kürzlich Grenzübertrittsbescheinigungen bekommen – die unmißverständliche Aufforderung zur Ausreise. Nein, wirklich abschieben wird man sie nicht. Aber sie müssen immer wieder vorsprechen bei der Ausländerbehörde.

Neben der Angst ist da der Haß. Bosiljka Schedlich, Leiterin des Südosteuropa-Kulturzentrums, sagt es immer wieder: „Das ist normal. Es ist Gift in euch hineingespritzt worden, das brennt. Aber wir können uns gegenseitig das Wasser sein, das das Gift verdünnt.“ Ihr Nachbar nickt. „Aber oft ist es so, als ob ich eine neue Giftspritze bekomme.“

Das Gift wird gespritzt in bürokratischen Dosen. Seit Juni, dem Inkrafttreten des neuen Asylbewerberleistungsgesetzes, ist die monatliche Sozialhilfe auch für Kriegsflüchtlinge um 20 Prozent gekürzt. Und alle Extraleistungen sind gestrichen: Anto, dem stillen Beamten, hat man die 100 Mark Alterszuschuß genommen, die ihm mit seinen 71 Jahren zustanden, seinem Nachbarn das Geld für die Spezialernährung, die er als Diabetiker braucht. Gestrichen wurde auch die Sozialkarte für U-Bahn und Bus. 3,60 Mark kostet jetzt jede Fahrt. Die Gruppe, der Rettungsanker für die Männer, ist zum Luxusartikel geworden. Einige kommen nur noch jedes zweite Mal. Im Sozialamt Lichtenberg, kilometerweit entfernt vom Kreuzberger Treffpunkt, hat man dem ehemaligen Lagerinsassen Marko gesagt: „Was müssen Sie auch Bus fahren? Sie können doch laufen.“