■ Nebensachen aus Jerusalem
: Kampf um den Zebrastreifen

Zugegeben. Ich kenne die Geschichte nur vom Hörensagen. Mein Vermieter, ein armenischer Jude, der Anfang der dreißiger Jahre nach Jerusalem gekommen ist, hat sie mir erzählt. Aber er verbürgt sich dafür, daß sie wahr ist. Ereignet hat sie sich im vorigen Monat. Und in der Tat ist sie keineswegs untypisch für den Kampf zwischen Fußgängern und Autofahrern, der auf Jerusalems Straßen fast täglich an Zebrastreifen und Fußgängerüberwegen ausgetragen wird.

Moshe Maoz, so erzählt mein Vermieter, machte erst vor einem Jahr seine Aliya. Nach seiner Einwanderung nach Israel änderte er seinen amerikanischen Namen. Er lernte ein leidliches Hebräisch. Eines aber störte ihn unmäßig. Er konnte sich nicht damit abfinden, an einem Zebrastreifen die vorbeirasenden Autos geduldig vorbeizulassen, bis sich ihm eine Chance bot, die Straße zu überqueren. Er hielt es schlicht für ein Zeichen wachsender Respektlosigkeit vor dem Gesetz und einer in Israel durchaus nicht seltenen Ellbogenmentalität, daß die Schwächsten im Straßenverkehr bestenfalls schlicht ignoriert und schlimmstenfalls einfach überfahren werden.

An einem sonnigen Augustnachmittag entscheidet sich Moshe nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Straße zu überqueren, spontan, den Kampf gegen die Autofahrer aufzunehmen, die den Zebrastreifen ignorieren. An einem Fußgängerüberweg in der verkehrsreichen Hanevim-Straße in West-Jerusalem macht er sein Vorhaben wahr. In einem durchaus waghalsigen Manöver tritt er drei Schritte nach vorn und zwingt damit einen weißen VW-Polo zu einer Vollbremsung. Der Fahrer steigt aus und beschimpft Moshe als Idioten und Ignoranten. Moshe läßt sich nicht lumpen und gebraucht seinerseits die ihm geläufigen hebräischen Schimpfwörter. Der heftige Disput wird handgreiflich. Der Fahrer des Polo schubst Moshe auf den Bürgersteig. Der schwingt seinen Stock. Und ruft nach der Polizei.

Doch der Fahrer will sich nicht länger aufhalten lassen und steigt wieder in seinen Wagen, nicht ohne zuvor Moshe noch durch einige obszöne Gesten zu beleidigen. Moshe wittert den Versuch einer Fahrerflucht und schlägt mit seinem Stock auf den erst ein Jahr alten Polo ein. Der weiße Lack splittert, und der hintere Kotflügel an der Beifahrerseite weist einige sichtbare Dellen auf.

Passanten, so mein Vermieter, greifen in das sich anschließende Handgemenge ein, trennen die Kampfhähne und verhindern so Schlimmeres. Nach einer halben Stunde trifft die Polizei ein. Sie begutachtet die Schäden an dem VW-Polo nur kurz, konfisziert Moshes Stock als Tatwerkzeug und zwingt den sich wehrenden und laut schreienden Moshe in das Polizeifahrzeug. Moshes Erklärungsversuche stoßen bei den Polizisten auf taube Ohren. Mein Vermieter beteuert, daß dies nicht an Moshes mangelnden hebräischen Sprachkenntnissen gelegen haben kann.

Wegen Beschädigung fremden Eigentums und Gefährdung des Straßenverkehrs wird Moshe von der Polizei angezeigt. Moshe, der die Welt nicht mehr versteht, wartet gegenwärtig auf seinen Strafbefehl. Doch er ist entschlossen, vor Gericht zu ziehen. „Passen Sie auf, wenn Sie hier in Jerusalem über die Straße gehen“, rät mein Vermieter. Georg Baltissen