■ Zwiespältig: Ungarn öffnet die Archive der Staatssicherheit
: Schutz für die Spitzel

Seit Montag sind die Stasi-Akten für alle Ungarn zugänglich. Zuvor war es bereits für einzelne möglich, in die Spitzel-Dossiers des Innenministeriums Einblick zu nehmen. Auch ich machte davon Gebrauch. Doch bis heute legte man mir nichts als die Akten über meinen Strafprozeß wegen der Teilnahme an der Revolution von 1956 vor. Verblüfft bemerkte ich, daß in den Texten unterschiedslos alle Namen geschwärzt waren, selbst die meiner Mitangeklagten. Ja, selbst den Namen des Vorsitzenden des Arbeiterrates von Groß-Budapest, Sándor Rácz, tilgte man, obwohl er der Held Dutzender Bücher ist.

In Ungarn wird großes Gewicht auf den Schutz der Menschenrechte gelegt – vor allem auf jene der Spitzel. So wurde der Kreis der zu durchleuchtenden Personen eng beschränkt. Die berüchtigte Abteilung III/I, die sich mit der Observierung und Bespitzelung ungarischer Auslandsreisender und Emigranten befaßte, steht bis heute unter Schutz, „im Interesse des ungarischen Staates“, wie es so schön heißt. Konkret bedeutet dies, daß die Mitarbeiter und Dossiers dieser Abteilung nach der Wende von 1989/90 von der neuen Macht einfach übernommen wurden. Darüber hinaus warf das Durchleuchtungsgesetz die Spitzel sowie jene, die ihre Berichte lasen, in einen Topf. So kam es, daß das zuständige Richtergremium am Montag Ministerpräsident Gyula Horn zum Rücktritt aufforderte, weil er als Außenminister vor der Wende die Spitzelberichte diverser Abteilungen in die Hände bekam. Bloß – von Horn hatte bislang jeder gewußt, daß er einmal Außenminister war. So werden jene „entlarvt“, deren Vergangenheit nicht sonderlich glorreich, aber zumindest allgemein bekannt ist. Und so schützt das Gesetz jene, die insgeheim und auf widerwärtigste Weise mit der samtenen Kádár-Diktatur kollaborierten.

Mit Verbesserungen auf diesem Gebiet ist nicht zu rechnen. Denn der ungarischen KP gelang es zwar Ende der 80er mit dem Einparteiensystem sowjetischen Typs zu brechen – die Vergangenheit und das diffizile Geflecht persönlicher Beziehungen, auf das sie ihre Macht früher stützte, ist jedoch noch lebendig. Zudem hatten unter dem Gulaschkommunismus zu viele mit der Macht kollaboriert. Deshalb können sich die ungarischen Eliten heute keineswegs mit reinem Gewissen für die Menschenrechte der Spitzelopfer stark machen. István Eörsi

Publizist in Budapest. Aus dem Ungarischen von Gregor Mayer