Gratismut und Kinderkitsch

Die brave UN-Kinderrechtskonvention ist leider komplett folgenlos geblieben. Gleiches kann man auch ihrer Verfilmung prophezeien  ■ Von Katharina Rutschky

Jeder, der von dem Projekt der verfilmten Kinderrechtskonvention hörte, winkte erst einmal ungläubig ab. Wie sollte das wohl aussehen? Seit vorgestern und bis zum 19. September zeigt das ZDF nun an jedem Werktag eines seiner zwölfminütigen 20 Minidramen. In jedem wurde ein Artikel der Kinderrechtskonvention von 1989 in eine lehrhafte, aber kindgerechte Spielhandlung übersetzt.

Für Artikel 31 – das Recht der Kinder auf freie Entfaltung – sieht das beispielsweise so aus: Ein Mädchen soll von seinem ehrgeizigen Vater auf Tennisstar trainiert werden, möchte aber lieber spielen gehen. Captain Cork, als kleiner Batman in allen 20 Filmchen für die Kinderrechte unterwegs, klärt das Kind über sein Recht auf. Mit List und Tücke, moralisch keineswegs einwandfrei, gelingt es, den Vater von seinen Plänen für die Tochter abzubringen.

Ein weiteres Beispiel. Artikel 28 stellt das Recht aller Kinder fest, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Zwei Berliner Schulschwänzer lernen auf einem Wochenmarkt einen arabischen Jungen kennen, der zwar wunderbar kopfrechnen, aber nicht lesen und schreiben kann. Er lebt nämlich illegal bei seinen Großeltern in Deutschland und kann also nicht zur Schule gehen, weil er dann entdeckt würde. Fazit dieses Films, wörtlich: „Schulpflicht ist ein Recht für alle.“

Ich weiß nicht, ob Kinder im Grundschulalter diesen Satz verstehen – ich jedenfalls tue es nicht. Ebenso undurchsichtig ist die Filmhandlung: Soll potentiellen Schulschwänzern eine Lektion erteilt werden, so in der Art, wie man ehedem Kinder zur Dankbarkeit gegenüber unerwünschten Wohltaten anhielt? Vielleicht lautet die Pointe aber auch: Nur wer zur Schule muß, kann auch die Schule schwänzen. Mit einer kleinen Urkundenfälschung gelingt es jedenfalls, den neuen Freund in eine Institution einzuschleusen, der die beiden andern doch so gern den Rücken kehrten...

Beispiel Nummer drei. Artikel 23 verkündet das Recht behinderter Kinder auf ein erfülltes Leben und die aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft. Illustriert wird dieses Recht an der Geschichte von Stefan, dem lieben Sohn eines bösen Hausmeisters, und Katja, dem blinden Töchterchen engagierter Eltern.

Katja muß im Keller Klavier spielen, weil es in der Wohnung untersagt ist. Man möchte meinen, daß in diesem Fall Kenntnisse des Mietrechts in deutschen Landen nützlicher wären als die melodramatische Anrufung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Ziemlich lahm lautet das Fazit dieses Films denn auch ganz im Geist jenes unpolitischen und unverbindlichen Humanismus, für den die Türen längst überall auf Durchzug stehen: „Der Film zeigt, wie versteckt bisweilen Vorurteile gegen Behinderte sein können.“

Als ob wir uns nicht über jedes Vorurteil freuen müßten, das sich verstecken muß. Der Himmel bewahre uns lieber vor Vorurteilen, die sich schamlos und öffentlich akklamiert überall zeigen dürfen! Die werden dann in 30 Jahren vom ZDF, und wieder in Zusammenarbeit mit Terre des Hommes, in einer ebenso kritisch-engagierten Filmserie aufgearbeitet. Anders gesagt: Die parteiische (sic) Aufklärung von Kindern über ihre Rechte kommt um Jahrzehnte zu spät, entspricht heute vollkommen konventionellen Anschauungen und hinkt deshalb den aktuellen Problemen der Kinder und der Gesellschaft, in der sie leben, weit hinterher.

Auch die Erkenntnis von Terre des Hommes, daß „das Kind nicht erst ein Mensch wird, sondern schon einer ist“, geht nirgends mehr als radikal, eher doch schon als Bekenntnis zu Gratismut und Kinderkitsch durch.

Was die Kinder zu dieser Filmserie über ihre Rechte sagen werden, ahne ich nicht. Man kann aber nicht ausschließen, daß beliebte GrundschullehrerInnen zugewandte SchülerInnen zu Höchstleistungen auf dem Gebiet der Erspürung von Kinderrechtsverletzungen animieren werden. In den Kindergottesdiensten um 1950, die ich absolvierte, wurde auch mit gesuchten moralischen Exempeln operiert – ganz wie heute im Fernsehen –, geschadet haben sie mir jedenfalls nicht. Kinder sind tatsächlich Menschen. Und wie diese viel resistenter gegen pädagogische Beeinflussung, als es auch den Missionaren lieb sein kann.

Aber warum kann dieses Projekt nicht gut gehen, wo doch Cecil B. de Mille die „Zehn Gebote“ gleich zweimal, 1923 und 1956, mit Erfolg verfilmt hat? Als Stoff bieten die Kinderrechte keinen Widerstand und keine Spannung. Das liegt an der entpolitisierten Auffassung von Menschen- und Kinderrechten, die inzwischen gang und gäbe ist, weil sie den Public-relation-Zwängen am besten entspricht, denen alle NGOs ausgesetzt sind. Sie müssen, um Interesse und Geld abzurufen, Problemszenarien verbreiten, deren Botschaft sich immer von selbst versteht. Die nützlichsten Reaktionen lauten „Das ist ja furchtbar“ oder „Das darf doch nicht wahr sein“. Die Zustände von Hunger und Elend in allen möglichen Regionen der Welt werden nicht als Aufgabe und Herausforderung begriffen, sondern aus der Perspektive der saturierten europäisch-angelsächsischen Mittelschichten als „Rechtsverletzung“, die zum Himmel schreit.

„Die Rechte der Kinder“, werktags, 14.10 Uhr, ZDF