Bewegtes Beiwerk einer merkwürdigen Person

Bernd Roeck hat die Jugendjahre des Kunst- und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg aufgezeichnet, ohne sich an einer Interpretation zu versuchen  ■ Von Michael Rutschky

Bernd Roeck, Jahrgang 1953, Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Bonn, hat jetzt eine Studie von 120 Seiten veröffentlicht, worin er die Jugendjahre des berühmten Kunst- und Kulturwissenschaftlers Aby M. Warburg (1866–1929) anhand zahlreicher, zumeist unpublizierter Briefe und Tagebuchnotizen nachzeichnet, die Kindheit in Hamburg, die Studentenjahre in Bonn und Straßburg, die Militärzeit in Karlsruhe, auch die erste Begegnung mit Italien und die Anfänge der schwierigen Beziehungen des jungen Juden aus orthodoxer Familie mit Mary Hertz, einer Protestantin aus dem Hamburger Großbürgertum.

Dies alles waren weniger meine Formulierungen als die des Waschzettels, den der Verlag dem Buch Bernd Roecks beigab – Waschzettel gehören, nach der zauberischen Studie, die der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette 1987 veröffentlichte (deutsch 1989), zu den „Paratexten“. Das sind, neben dem Waschzettel, Widmungen, Motti, Vorworte, aber auch der Name des Autors, der Titel des Buches, die Angaben über Verlagsort und Druckort auf der Titelrückseite, kurz: Paratexte nennt Gérard Genette alle Texte, die dem eigentlichen Buchtext vorausgehen oder ihm folgen (wie Rezensionen, briefliche Selbstkommentare) und die ihm, mit einem Begriff des amerikanischen Soziologen Erving Goffman, einen „Rahmen“ verleihen. Paratexte definieren beispielsweise das Genre eines Buches, „Roman“ oder „Essay“ oder „historische Studie“. Der Waschzettel sagt mir, wo ich eingetreten bin, wenn ich den eigentlichen Buchtext zu lesen beginne.

Genettes Studie behandelt laut Untertitel das „Beiwerk des Buches“, und ich darf behaupten, daß sie in den Wirkungskreis von Aby Warburgs Kulturwissenschaft gehört, dessen Umfang gar nicht groß genug einzuschätzen ist: Warburgs Untersuchungen über bewegtes Beiwerk auf Bildern der Renaissance brachten ihn zu zentralen Aufstellungen über das Nachleben der Antike. Beiwerk zum Gegenstand eines dicken Buches zu machen, das ist die Warburg-Tradition (auch diejenige Freuds, der Versprechern und anderen Fehlleistungen, dem Beiwerk des Alltagslebens, eine Untersuchung widmete). Genettes „Paratexte“ sind von der Literaturkritik noch nicht richtig ausgewertet worden; deshalb darf ich hier noch ein bißchen damit weitermachen:

Die typischerweise unpaginierte Titelrückseite von Bernd Roecks Studie über den jungen Warburg meldet uns unter anderem: „Der Druck des Textes erfolgte im Buchdruck auf einer Polygraph V 1040 des Baujahres 1975. Als Schrift wurde die Korpus Didot, Nr. 71-11 Monotype verwendet. Die zwölf Textabbildungen wurden im Offsetverfahren eingedruckt. Als Papier wurde ein 120 Gramm schweres Alster- Werkdruck der Firma Geese Hamburg verwendet, es ist alterungsbeständig (säurefrei) und aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff hergestellt.“

Jetzt erwartet man eigentlich Angaben, daß eine Vorzugsauflage von 200 numeriert und vom Verfasser handsigniert sei. Und eine geheime Anzahl Exemplare sei während einer spiritistischen Séance in Florenz aus dem Jenseits von Aby Warburg persönlich signiert und sogleich unter die Secreta der Warburg-Bibliothek eingereiht worden – das war nur ein Scherz.

Der Kritiker, der seine Redezeit beim Waschzettel und den anderen Paratexten vertrödelt, macht sich verdächtig, er habe den Haupttext ordentlich durchzuarbeiten verabsäumt. Deshalb springen wir jetzt mitten hinein. „Das Studium in Straßburg“, schreibt Bernd Roeck auf Seite 70, „ermöglichte es Warburg nochmals, seinen Blick zu weiten, und oft besuchte er Kollegs, die ihn über sein kunsthistorisches Fach hinausführten.“

Der Satz ist repräsentativ für die Stillage und den intellektuellen Anspruch von Bernd Roecks Buch. In dem Satz läßt sich Warburgs Name durch jeden anderen ersetzen – beispielsweise meinen: Auch ich habe nicht nur an einer Universität studiert (und nochmals meinen Blick erweitert) und des öfteren Kollegs außerhalb meines Studienfachs besucht. Das Buch von Bernd Roeck sagt so gut wie gar nichts über den jungen Aby Warburg, wenn man sich unter biographischer Arbeit mehr vorstellt als vorsichtiges Zitieren von Primärmaterial, vorsichtiges Nachzeichnen von Bildungsgang und persönlichem Leben, eine Vorsicht, die es Autor wie Leser erspart, der überaus merkwürdigen Person, die Aby Warburg war und mittels derer er ein überaus merkwürdiges Werk hinterließ, näherzutreten.

Man kann es auch anders sagen: Bernd Roeck schreibt die Biographie des jungen Aby Warburg als Legende, worin jedes Datum und Faktum schon dadurch Bedeutsamkeit erlangt, daß es als Abdruck der Gegenwart des Heiligen gelten muß. Als schieres Zeugnis seiner Präsenz macht es weitere Auslegungsarbeiten überflüssig. Der Paratext der Titelrückseite, der doch eine bibliophile Veröffentlichung suggeriert, bekräftigt als Rahmen das Genre der Legende.

Damit befinden wir uns freilich in der Nähe von Aby Warburgs merkwürdigem Werk, dessen Zentrum ein Kult des Buches bildet. Ort dieses Kultes war die von ihm begründete „Kulturwissenschaftliche Bibliothek“, eine Buch-Versammlung, von der sich Warburg magische Wirkungen versprach. Schon die Zusammenstellung der Apparate sollte gewisse Bedeutungsentladungen bewerkstelligen – irgendein Besucher des Warburg Institute in London, wo die Kulturwissenschaftliche Bibliothek fortexistiert, hat mir mal ehrfürchtig erzählt, wie man ihm ehrfürchtig erzählte, daß an gewissen Zusammenstellungen auf gewissen Regalen noch die Hand des Magus zu erkennen sei. Der Besucher der Bibliothek ist eigentlich gar nicht als Leser konzipiert, sondern als Pilger, der sich an einem magischen Ort unter den Einfluß der magischen Bücher begibt. Sie sollen sich seiner bemächtigen.

Bemerkenswerter-, man kann auch sagen: verwirrenderweise dachte sich Aby Warburg den Beeinflussungsapparat seiner Bibliothek dabei als Instrument der Aufklärung, rationaler Welterschließung. Die Bibliothek Warburg bildete das Kommandozentrum in einem Krieg gegen die Dämonen – Dämonen, mit denen die Menschheit seit Urzeiten kämpft, ein Kampf, den insbesondere die Geschichte der Bilder, der bildenden Kunst erzählt. Dank dem Studium zahlloser und höchst unterschiedlicher Bücher – Warburg sammelte Kunst- ebenso wie Wirtschafts-, Rechts- und Religionsgeschichte –, ein Studium, das eigentlich weiße Magie ist, können wir einen „Denkraum“ (Warburgs Begriff) eröffnen, worin die in der bildenden Kunst lebendigen Dämonen stillgestellt und erkannt werden können, ein Bann, den die bildende Kunst vorbereitete, indem sie die Wirkkraft der Dämonen ebenso überlieferte wie bändigte.

Aby Warburg ist wahnsinnig gewesen. Er hat, mit Harry Mulischs schöner Formel für Nietzsche, in den Abgrund geschaut, und der Abgrund schaute zurück. Anders als Nietzsche, den der Wahnsinn schließlich von seiner kommunikativen Intelligenz abtrennte, gewährte er Warburg immer wieder freie Intervalle, in denen er wissenschaftlich arbeiten konnte. Die ihm seine wissenschaftliche Arbeit als erfolgreichen Kampf gegen die Dämonen des Wahnsinns, als Errichtung eines Denkraums aufzufassen erlaubten: Seinen größten Triumph in dieser Hinsicht bildete der Bericht über das Schlangenritual der Hopi-Indianer, dem er 1896 beigewohnt hatte, ein Bericht, den er 1923 in Ludwig Binswangers psychiatrischer Klinik „Bellevue“ vortrug, um zu beweisen, daß er persönlich seinem Wahnsinn entronnen sei und die Klinik wieder verlassen könne.

Zwar ist dieser Reisebericht in einer hübschen Ausgabe des Verlages Klaus Wagenbach zu kaufen, und ausgewählte Schriften Aby Warburgs existieren in einer abgelegten Edition Dieter Wuttkes. Wer Warburg als Kulturtheoretiker zusammenhängend kennenlernen möchte, muß sich aber an Ernst Gombrich halten, der 1970 seine „intellektuelle Biographie“ verfaßt hat, eine rationale Rekonstruktion dessen, was Aby Warburg als Kulturwissenschaft vorschwebte (auf deutsch jetzt bei der Europäischen Verlagsanstalt).

Das Problem bei Warburgs Hinterlassenschaft ist, daß wir nirgends eindeutig entscheiden können, wo es sich dem Wahnsinn verdankt und wo dem erfolgreichen Kampf dagegen. Sind bei Freud der Träumer, der in der Wildnis ist, und der Traumdeuter klar unterschieden, so gehen bei Warburg die Rollen durcheinander. Das ist besonders deutlich in seinem letzten großen Projekt, dem „Bilderatlas“ namens „Mnemosyne“ abzulesen, der von der Antike bis zur Reklame die Kulturarbeit der Menschheit veranschaulichen solle. Gombrich berichtet von der Verzweiflung, die seine Schüler nach Warburgs Tod ergriff, weil keiner außer ihm den Zusammenhang erkannte.

Als Fellow-traveller der Warburg-Tradition wünsche ich mir ein Buch, das in dies Zentrum von Warburgs Werk zielt, die Ununterschiedenheit von Wahnsinn und Vernunft. Statt wie Nietzsche zu verstummen, hat Warburg nie aufgegeben: Hier liegt seine Größe, sein Genie. Das einfache Fortschreiben seiner Legende, wie Bernd Roeck es betreibt, reicht nicht mehr aus.

Bernd Roeck: „Der junge Aby Warburg“. München: C.H. Beck 1997. 120 Seiten, 24 DM