Eine Gang hinter der Mauer des Schweigens

■ Prozeßbeginn: Eine Jugendbande soll 17jährigen in den Tod getrieben haben

Hamburg (taz) – „Angst? Wovor denn?“ Seine Silberkette läßt Nunad B. unablässig zwischen seinen Fingern kreisen. „Den Prozeß nehme ich nicht ernst.“ Er verzieht den Mund: Was soll ihm schon passieren? Die Anklage spricht eine andere Sprache. Der 20jährige und weitere sieben Mitglieder seiner „Stubbenhof-Gang“ stehen von heute an in Hamburg vor Gericht. Ihnen wirft die Anklage unter anderem Raub, Betrug und schwere Körperverletzung vor.

Nicht vor Gericht verhandelt wird, daß die Bande den 17jährigen Mirco T. zum Selbstmord getrieben haben soll. Er hatte es nicht mehr ausgehalten, durch die „Stubbenhof-Gang“ erpreßt und allmonatlich um sein Lehrlingsgehalt gebracht zu werden. Neuwiedenthal im Süden von Hamburg gilt nicht nur wegen dieses spektakulären Falls als Problemstadtteil. Spielplätze gibt es nur wenige zwischen den hohen Wohnblocks. Mirco T. lebte im „Stubbenhof“ – die Straße, in der auch die Jungs von der „Gang“ herumlungerten.

Mirco T.s Abschiedsbrief über Schutzgelderpressungen brach die Mauer des Schweigens. Einmal ausgesprochen, trauten sich auch andere, ihren Mund aufzumachen. Allen im Viertel war bekannt, daß „die“ im Stubbenhof das Sagen hatten. „Die sind immer als Gruppe aufgetreten“, erinnert sich Carmen Cornehl, Erzieherin im Spielplatzheim. Und Waltraud Steinberg vom Haus der Jugend weiß, daß man „denen“ mit Sozialarbeit nicht mehr kommen konnte: „Das Hilfesystem hätte früher greifen müssen.“

Nun droht den Angeklagten statt sozialtherapeutischer Maßnahmen Knast. Amor S. und Sadek Y., 17 und 18 Jahre alt, befinden sich in Untersuchungshaft. Nunad B. ist einschlägig vorbestraft. „Körperverletzung, Raub“, sagt er lässig. Das mit der Schutzgelderpressung sei sowieso Quatsch. „Bei Mirco“, will sein 24jähriger Freund Mustafa wissen, „ging es um was ganz anderes.“

Nunad B. nickt und grinst. Und mit den anderen Gründen für den Selbstmord habe er nichts zu tun. Daß er nun vor dem Kadi steht, meint er einem Mädchen zu verdanken. Die habe ihn bei der Polizei angeschwärzt. „Wegen Drogengeschichten“, deutet er vage an, sei sie sauer gewesen.

Doch nicht allein diese 16jährige berichtete über das, was sich im Stubbenhof abspielte. 20 weitere Bandenopfer packten aus, auf 40 bis 60 Jugendliche schätzt die Polizei die Zahl derer, die Geld und Klamotten auf der Straße los wurden. Weitere Eskalation zu vermeiden, bemühen sich seit Mirco T.s Tod Lehrer, Eltern, Sozialarbeiter und nicht zuletzt die Jugendlichen selbst. Nach dem Selbstmord setzten sich Politiker mit den Jugendlichen an einen Tisch. Seither gibt es die Skateranlage, Streetballanlage und drei selbstverwaltete „Jugendkeller“.

„Die Leute haben mehr zu tun“, bringt es der Biker Pavel M. auf den Punkt. Ob es mit Freizeitangeboten allerdings getan ist, bezweifelt eine der Sozialarbeiterinnen stark. „Gesellschaftliche Entwicklungen können wir nicht auffangen“, bedauert sie. „Ich kann keine Lehrstellen anbieten und die Armut abfangen.“ Waltraud Steinberg vom Haus der Jugend sieht die guten Ansätze in der Jugendarbeit Neuwiedenthals überschattet von einer anderen Entwicklung: „Der Stadtteil ist stärker als zuvor stigmatisiert. Das kriegen die Jugendlichen bei Bewerbungen deutlich zu spüren.“ Elke Spanner