Betrug im Forschungslabor

Der Erste, Beste und Erfolgreichste wollte der Krebsforscher Friedhelm Herrmann sein. Jetzt sitzt er auf der Anklagebank in Deutschlands größtem Forschungsskandal  ■ Aus Stuttgart Josef-Otto Freudenreich

Guido Adler schleppt Ordner um Ordner an. Welche Klarsichthülle der Dekan der medizinischen Fakultät in Ulm auch öffnet, darin steckt immer eine Fälschung. „Junk“ nennt er die Papiere, als wären sie für eine Fast-food-Kette gefertigt. Ihren Verfasser hält er heute für einen Phantasten: Friedhelm Herrmann, der Mann, dem der größte Forschungsskandal in der deutschen Wissenschaft angelastet wird. Dieser Mann zählte bis vor kurzem zu den bedeutendsten Krebsforschern im Land. Heute darf Herrmann weder Labor noch Klinik betreten, er sitzt zu Hause in Ulm-Söflingen und sagt: „Eine Rehabilitation ist nicht möglich.“

Es steht schlecht um den Professor der Medizin. 37 Arbeiten hat eine Kommission von Wissenschaftlern aus Ulm, Freiburg, Berlin und Lübeck entdeckt, in denen zum Teil auf plumpeste Art getrickst wurde. Gefälschte Zahlen, am Computer herbeigezauberte Bilder, geklaute Ergebnisse, erfundene Tabellen, Arbeiten, die angeblich im Druck waren, aber nie erschienen sind, all das findet sich zuhauf in den 398 Veröffentlichungen Herrmanns. Er selbst bestreitet bis zum heutigen Tag, von den „Fälschungen gewußt oder sie initiiert zu haben“. Für ihn ist die Schuldige seine ehemalige Kollegin Marion Brach, eine ebenso publikationswütige Molekularbiologin, die hinter seinem Rücken manipuliert habe. Er sei Arzt am Krankenbett und habe „irgendwann einmal aufgehört zu forschen“. Man merkt Herrmann die Verzweiflung an, das Wissen darum, daß er am Ende ist. Unschuldig sei er und ohnmächtig zugleich, meint der einst Gefeierte.

In seinem Wahn, der Erste, Beste und Erfolgreichste zu sein, hat er ein Gesetz verinnerlicht, das in der Wissenschaft oberstes Gebot ist: publish or perish (veröffentliche oder gehe unter). Die Zahl der Publikationen entscheidet über die Karriere, die Vergabe von Forschungsgeldern, über Größe des Instituts, über Einkommen, Ruhm und Ehre. Ein radikaler Kritiker dieser Praxis ist der Heidelberger Zellbiologe Werner Franke. Der Abteilungsdirektor am Deutschen Krebsforschungszentrum weiß davon, daß sich viele der Kollegen Professoren als Mitautoren über die Aufsätze schreiben lassen, „ohne Kenntnis des Inhalts“. Begünstigt durch eine „besondere Form der Arschkriecherei“ der Untergebenen, die ihre Chefs mit ins Boot nehmen, um die eigene Karriere zu fördern. Wie sagt doch Friedhelm Herrmann so schön: „80 Prozent meiner Kollegen entsprechen diesem Wunsch.“ Auf diese Weise ist wohl auch der Name seines Doktorvaters Roland Mertelsmann auf gefälschte Arbeiten geraten, was dem „Pionier“ (Spiegel) unter den deutschen Gentherapeuten heute sehr unangenehm ist. Er habe, so seine Aussage gegenüber Franke, davon leider nichts gewußt.

Darüber gerät wiederum Ulms Dekan Adler in Rage. Er hält es für „absolut unerträglich“, wenn sich Wissenschaftler auf diese Weise „aus der Verantwortung stehlen“. Zumal dann, wenn man den Revers kennt, den sie unterschreiben müssen, bevor sie ihre Ergebnisse an hochrangige Zeitschriften schicken. Zu unterzeichnen ist der Satz: „Ich habe den Inhalt gesehen und geprüft und bin von der Integrität der Arbeit absolut überzeugt.“ Die Folgen des Papierfetischismus sind gesperrte Gelder von der DFG, der Deutschen Krebshilfe und der Fritz- Thyssen-Stiftung, ein nicht meßbarer immaterieller Schaden für die Uni sowie die zerstörten Karrieren etlicher Akademiker. Es muß in der Tat dieser tiefe Glaube der Wissenschaftler an die Unfehlbarkeit ihres eigenen Tuns gewesen sein, der sie so blind gemacht hat. Wie anders ist zu erklären, daß Peter-Hans Hofschneider, Doktorvater von Herrmanns Mitarbeiter Eberhard H., der den Skandal offenlegte, einen Monat warten mußte, bis er eine Antwort auf seinen Brandbrief an das Max-Delbrück-Centrum (MDC) in Berlin erhielt, wo Herrmann vor seiner Ulmer Zeit beschäftigt war. „Tief betroffen über die schmerzliche Situation“ berichtete Hofschneider darüber, was ihm sein Doktorand in seiner Not offenbart hatte. Es handele sich „unabweislich um bewußte Fälschungen“, schrieb er an MDC-Stiftungsvorstand Detlev Ganten. Als Antwort erhielt er sechs Zeilen, in denen ihm mitgeteilt wurde, er möge doch wissen lassen, in welcher Form man hilfreich sein könne. Nun ist Hofschneider nicht irgendwer, sondern Leiter des Martinsrieder Max-Planck-Instituts für Biochemie und einer der führenden Köpfe seines Fachs. Er hat das lapidare Schreiben so desaströs gefunden wie sein Kollege Adler.

Nun mag Ganten zugutegehalten werden, daß er zunächst die Dimension des Falls nicht erkannt hat, später hat sein Institut an der Aufklärung intensiv mitgewirkt, und dennoch wirft sein Verhalten ein bezeichnendes Licht auf die scientific community. Hier sitzen über Jahre oft dieselben Leute als Gutachter in den Gremien. Unter diesem „old boys network“ zirkulieren die Aufsätze und Anträge, die entsprechend wohlwollend beurteilt werden. Der jeweils andere könnte ja als Zensor eigener Begehrlichkeiten auftreten.

Und wenn betrogen wird, versucht ein kleiner Kreis das Problem intern zu regeln. Beschworen werden die Selbstreinigungskräfte der Academia, es wird gekündigt oder versetzt, und danach geistern solche gefallenen Engel allenfalls noch als skurrile Figuren im Schnack der Wissenschaftler herum. Bei Herrmann war es so, daß man schon immer gemunkelt hat, daß irgendwas nicht stimmen könne. Seine merkwürdigen Schaubilder seien ihm schon vor acht Jahren aufgefallen, erfuhr Dekan Adler jüngst von einem Kollegen im Zug, da habe man doch nie etwas verstanden. Ihm dies zu sagen, ihm, dem Gen-Guru, das hat sich keiner getraut.

„Der kritische Meinungsaustausch ist häufig der indirekten Kritik hinter dem Rücken der Betroffenen gewichen“, klagt Hofschneider. Das hängt auch damit zusammen, daß der Ehrenkodex der Forscher unter dem Druck der Konkurrenz immer mehr zerbröselt. Hofschneider sieht ein Wertesystem im Wandel, das Fälschungen „das Terrain ebnet“. Und Ordinarius Werner Franke, der sich auch als Anti-Dopingkämpfer im Sport einen Namen gemacht hat, könnte gar eine „ganze Vorlesung mit Betrugsfällen“ bestreiten.