In Ägypten droht der Bauernaufstand

Liberalisierung ohne Rücksicht auf Verluste: Per Gesetz will die Regierung in Kairo das Verhältnis zwischen Landbesitzern und Landpächtern neu regeln. Die Pächter müssen fürchten, ihr Leben als Tagelöhner zu fristen  ■ Aus Kamschisch Karim El-Gawhary

Die Tauben harren im Schatten ihres Schlages auf dem Dach der erlösenden kühlen Nachmittagsbrise. Einige magere Hühner und Ziegen durchstreifen die staubige Dorfstraße auf der Suche nach Eßbarem. Die meisten der Bauern haben sich auf der Flucht vor der Mittagshitze für kurze Zeit nach einem Morgen harter Arbeit auf den Feldern in ihre Hütten und Häuser geflüchtet.

Ein Tag ägyptischer, ländlicher Normalität in Kamschisch, einem 25.000-Seelen-Dorf im unteren Nildelta, eine gute Autostunde nördlich von Kairo gelegen. Doch im rettenden Schatten der Hütten, in denen die Bauern oft mit ihrem Vieh unter einem Dach leben, herrscht offene Verzweiflung. „Lieber sterben wir, als daß wir uns von unserem Land vertreiben lassen“, lautet der Tenor. Der Grund für die Angst, das wenige, was sie besitzen, zu verlieren, ist ein Gesetz, das die Beziehung zwischen Landbesitzern und Pächtern neu regeln soll.

Für die fünfhundert Pächter-Familien in Kamschisch könnte es ab Oktober ernst werden. Eine der großen Grundbesitzerfamilien im Dorf hat Pläne, in denen nur noch wenige der heutigen Pächter vorkommen – bestenfalls als billige Tagelöhner und Landarbeiter. „Wo soll ich hin? Ich habe nichts außer diesem halben Hektar Land. All die Jahre habe ich keinen Pfennig gespart“, sagt Abdel Rasul, einer der von Vertreibung bedrohten Pächter. „Soll ich meine Kinder zum Stehlen schicken?“ fragt er und deutet auf ein halbes Dutzend Kinder, die sich barfuß und in zusammengeflickten Klamotten um seine Hütte tummeln.

„Wer glaubt, daß die Bauern das einzige, was sie besitzen, einfach so aufgeben, der träumt“, sagt Karam Saber, Direktor des „LAND-Zentrums für Menschenrechte“. Die Atmosphäre am LAND sei aufs äußerste gespannt. „Bisher haben die Pächter meist nur Petitionen geschrieben und Unterschriften gesammelt, aber die Stimmung radikalisiert sich mit Näherrücken des Oktober-Ultimatums.“ Seine Organisation berät unterdessen über weitergehende Strategien wie gewaltfreie Streiks und Sit-ins in Kairo.

In manchen Gegenden haben die Bauern unterdessen die Dinge auf ihre Art in die eigenen Hände genommen. Kleinere Bauernaufstände im Nildelta und im unteren Niltal forderten nach Angaben des LAND-Zentrums bisher neun Tote und mehr als dreihundert Verletzte. Fast achthundert Menschen wurden im Zusammenhang mit Protesten gegen das neue Gesetz verhaftet. Und das, so glauben viele Bauern, ist erst der Anfang.

Anfang Juli hatten sich in zwei Dörfern in der Provinz Minja, dreihundert Kilometer südlich von Kairo, mehrere tausend Pächter zu einem Protestmarsch versammelt. Bei anschließenden Auseinandersetzungen zündete die Menge die Häuser von örtlichen Grundbesitzern an und blockierte mehrere Landstraßen und eine Eisenbahnlinie. Ein öffentlicher Bus ging in Flammen auf. Hastig herbeigeholte Polizisten konnten die Situation nur mit Mühe unter Kontrolle bringen. Drei Menschen starben während der Zusammenstöße, weitere zwanzig wurden verletzt.

Tags darauf brannten die Bauern in al-Attaf, einem Dorf im nördlichen Nildelta, das örtliche Büro des Landwirtschaftsministeriums nieder. Sie hofften damit, die Besitzurkunden des Landes zu vernichten. 164 Protestierende wurden laut Polizeiangaben festgenommen. Inzwischen kommt es fast täglich zu kleineren Zusammenstößen, wenngleich sie in den überwiegend staatlichen Medien kaum Erwähnung finden.

Auch in Kamschisch könnte die Lage jederzeit explodieren. Die örtliche Polizei wurde bereits verstärkt. Es kursieren Gerüchte über bevorstehende Razzien im Dorf, um die angeblich zahlreichen illegalen Waffen einzusammeln. „Wenn sie tatsächlich kommen, um uns das Land wegzunehmen, was haben wir dann noch zu verlieren? Da ist es mir auch egal, ob ich im Gefängnis sitze“, warnt einer der Pächter. Einer der verhaßten Landbesitzer in Kamschisch macht gelegentlich mit einem Trupp Bewaffneter die Runde auf den Feldern, um den Bauern ihren bevorstehenden Rausschmiß anzukündigen.

Landvermesser meiden Kamschisch inzwischen aus Sicherheitsgründen. Vor einem halben Jahr hatte ein Besitzer zwei Landvermesser auf die Felder geschickt, um ein zu verkaufendes Stück abzumessen. Von den Bauern entdeckt, rannten die beiden um ihr Leben. „Langsam wachen wir hier auf“, sagt der Pächter Abdel Ghanim. Lange Zeit wollten die Bauern in Kamschisch die Konsequenzen des neuen Gesetzes nicht wahrhaben. „So etwas nach all den Jahren, in denen ich mir die Haut auf meinem Feld verbrannt habe“, sagt der 64jährige, der sich mit seiner gegerbten Haut und seinem weißen Bart meist nur noch auf einem Esel sitzend durch das Dorf bewegt.

Angesichts des Journalisten, der sich auf ihre Felder verirrt hat, versammeln sich die Pächter im Schatten einer Hütte und lassen ihrem Zorn freien Lauf. Einer holt aus der Brusttasche seiner erdbeschmierten Galabija, dem traditionellen beinlangen Gewand der Bauern, einen vergilbten und verschwitzten Brief. Er habe dem Landwirtschaftsminister persönlich geschrieben. In dem Antwortschreiben bedankte sich das Ministerium lediglich für seine Anregungen. Er solle sich „keine weiteren Sorgen in dieser Angelegenheit machen“, liest der Bauer voller Zorn vor. „Gott hat uns verschieden zur Welt gebracht – den einen reich, den anderen arm –, aber wie kann es sein, daß man mir das wenige Brot, das ich habe, auch noch wegnimmt?“ fragt ein anderer. Die Umstehenden nicken zustimmend, während sie mißtrauisch den Horizont nach Polizei und den Helfern der Besitzer absuchen.

Die Regierung versucht unterdessen die Mobilisierung der Pächter durch Einschüchterungen einzuschränken. Versammlungen werden regelmäßig von Bereitschaftspolizisten umstellt. Diejenigen, die sich trotzdem auf die Versammlung wagen, werden drangsaliert. „Inzwischen“, sagt einer der Aktivisten gegen das neue Gesetz, „kündigen wir unsere Versammlungen nur noch sehr kurzfristig an, damit die Bereitschaftspolizei keine Zeit zur Mobilisierung hat.“

Besonders mißtrauisch verhält sich die Polizei aber gegenüber jenen Intellektuellen, die sich mit den Bauern solidarisiert haben. Mitte Juni wurden zwei Journalisten, ein Arzt und ein Anwalt verhaftet, nachdem bei ihnen Papiere mit kritischen Texten zu dem Gesetz gefunden wurden. Nach einem Polizeibericht hatten die Verhafteten Versammlungen gegen das Gesetz organisiert, Unterschriften gesammelt und Appelle an den Präsidenten geschickt. Ihnen wird nun vorgeworfen, die Öffentlichkeit gegen das politische System aufgehetzt und Material verteilt zu haben, das die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Interesse beschädigt habe. Trotz zahlreicher Appelle verschiedener nationaler und internationaler Menschenrechtsgruppen sitzen die vier noch immer in Haft.

Auf politischer Ebene versucht die Regierung die Angelegenheit kleinzureden. Neunzig Prozent des Problems seien bereits gelöst, und für die restlichen zehn Prozent werde sich auch noch eine Lösung bis Oktober finden, erklärte Präsident Husni Mubarak unlängst auf einer Pressekonferenz. Für die Regierung ist das neue Pachtgesetz ein Testlauf, wie sich auch in anderen Bereichen die Liberalisierungspläne mitunter gegen den Willen der Betroffenen durchsetzen lassen. Demnächst steht auch ein neues Gesetz zur Liberalisierung der seit Jahrzehnten festgelegten Wohnungsmieten und ein reformiertes Arbeitsgesetz an. Letzteres gibt den Unternehmern uneingeschränktes Recht für Entlassungen.

Mit zunehmendem Widerstand der Pächter macht sich die Regierung allerdings inzwischen auch Gedanken darüber, wo sie gegebenenfalls ein Hintertürchen finden könnte. Schon seit Monaten verspricht sie denjenigen Pächtern, die ihr Land verlieren, einen Ersatz in dem Neuland, das der Wüste abgewonnen werden konnte. Doch Mahmud Gabr vom Kairoer LAND-Zentrum winkt ab: „Um all die Pächter zu entschädigen, benötigen wir doppelt soviel Neuland, wie seit dem Beginn der Wüstenbewässerung in den fünfziger Jahren gewonnen wurde.“ Außerdem brauchten die Bauern Mittel für die anfänglichen Investitionen, und in den ersten fünf Jahren verschlinge das Neuland mehr, als es abwerfe. Die Bewirtschaftung von Neuland sei vielleicht ein lukratives Geschäft für Großinvestoren. Doch für die kleinen Pächter, ohne einen Pfennig in der Tasche, biete der Regierungsvorschlag kaum die rechte Alternative.

Neuerdings kursieren auch Vorschläge im Landwirtschaftsministerium, die Pächter über eine staatliche Landwirtschaftsbank mit langfristigen günstigen Krediten zu versorgen, damit sie das bisher von ihnen bestellte Land selbst erwerben können. Der Haken: Bei Preisen von umgerechnet über 60.000 Mark für den Hektar kultivierbares Land wäre eine zweistellige Milliardensumme nötig, um das Problem wirklich zu lösen.

Unterdessen rückt das Oktober-Ultimatum unaufhaltsam näher. Eine Zeitbombe, die nicht nur sozialen, sondern auch religiösen Sprengstoff enthält. Besonders in Oberägypten sind die Landbesitzer häufig christliche Kopten, die Pächter zumeist Muslime. „Der ökonomische Interessenkonflikt könnte schnell zum Streit der Religionen ausarten“, fürchtet Schahinda Maqlad von der linken Bauernvereinigung.

Einen Vorgeschmack gab es bereits vor gut einem Jahr in dem von dreitausend Muslimen und tausend Kopten bewohnten Dorf Kafr Demian. Mehrere hundert muslimische Dorfbewohner waren über von Kopten bewohnte Häuser hergefallen. Sie töteten das Vieh der Christen und brannten die Ställe nieder. Auslöser für die Hetzjagd auf Kopten waren Gerüchte über einen illegalen Kirchenbau. Der eigentliche Grund war aber auch damals der Konflikt um Boden: In dem Dorf waren die Spannungen zwischen den Konfessionen angeheizt worden, nachdem bekannt wurde, daß die überwiegend muslimischen Pächter ihr Land an seine koptischen Besitzer zurückgeben sollten.

Karam Saber vom LAND-Zentrum fürchtet, daß das neue Gesetz alte Familienfehden wieder zum Ausbruch bringen wird: „In vielen Teilen Oberägyptens herrscht noch die Blutrache, und das neue Gesetz wird alte Wunden zwischen Familien neu aufreißen.“ Auch sein Kollege Mahmud Gabr erwartet Rachefeldzüge, die mit der gegenseitigen Vergiftung von Brunnen, verbrannten Feldern oder dem absichtlichen Überschwemmen der Felder durch Öffnung der Bewässerungskanäle enden könnten. Wenn die Lawine einmal losgetreten sei, werde sie nicht mehr aufzuhalten sein. „Dann herrscht tatsächlich Krieg auf dem Land“, warnt schon jetzt einer der Bauern von Kamschisch.