„Ich saß da und habe geheult“

Vergeblich suchen Agnes und Muzaffer seit Jahren eine Lehrstelle – und Gründe für die Absagen. Die Hoffnung aufs nächste Jahrtausend erfüllt sich nicht  ■ Von Basil Wegener

„Frau Dutka, Ihre lachenden Augen und Ihre kluge Art haben uns überzeugt.“ Die Augen lachen zwar wirklich, und wenn Agnes Dutka erzählt, macht das Zuhören Spaß – auch wenn die 19jährige nur wenig Erfreuliches zu berichten hat. Doch so einen aufmunternden Satz hat die blonde junge Frau, die seit einem Jahr auf Lehrstellensuche ist, bisher nur im Traum gehört.

Zwar betonen die Personlchefs unermüdlich die Bedeutung persönlicher Qualifikationen. Doch der erfrischende Eindruck Agnes Dutkas beeindruckte bislang keinen. Nach einem verfehlten Realschulabschluß wollte Anges im Sommer des vergangenen Jahres auf eine Berufsfachschule. Aber ihr Notendurchschnitt von 3,2 war um 0,2 zu schlecht. 0,2 Notenpunkte hatten die damals 18jährige unversehens in die Berufswelt katapultiert. Da zählen nur Angebot und Nachfrage, und diese Größen befinden sich in einem beklagenswerten Mißverhältnis.

Die ersten Vergleiche der Stellenangebote mit den eigenen Wünschen hatten noch etwas Spannendes für Agnes. Immer wieder setzte sie sich an den aufgeräumten Schreibtisch in ihrem kleinen Zimmer, blickte in den Schöneberger Hinterhof und schrieb mit der Hand von ihrem besonderen Interesse an den angebotenen Stellen in Hotels oder Büros. Doch die Absagen häuften sich. Nach der 30. hat sie nicht mehr mitgezählt. „Ich saß da und habe geheult. Manche haben nicht einmal zurückgeschrieben“, klagt sie enttäuscht.

Der Sommer verging und nahm auch Agnes' Hoffnungen mit. „Im November hab ich die Gelben Seiten genommen und von 9 bis 12 telefoniert, aber die wollen sogar Zahnarzthelferinnen mit Abitur“, erzählt Agnes. Deshalb ist sie mit ihrem Hauptschulabschluß stolz, daß sie überhaupt einige Vorstellungstermine bekommen hat. Und im Januar schien die Welt tatsächlich wieder in Ordnung zu kommen: Eine Zahnarztpraxis am Hermannplatz in Neukölln gab ihr eine Chance.

Doch die währte nicht lange. Eine Kollegin konnte Agnes nicht leiden und mobbte sie nach zwei Monaten aus dem Betrieb. Das Arbeitsamt wollte sie in einen Lehrgang vermitteln – doch wieder scheiterte der Plan an einigen Zehnteln in der Aufnahmeprüfung. Mittlerweile war Agnes schon fast ein Jahr aus der Schule. „Gar nichts hat geklappt“, so ihr Resümee. Nun ist Agnes erst einmal in eine schulische Warteschleife gerutscht und holt den Realschulabschluß nach. Doch ob ihr der zu einer Lehrstelle verhilft, erfährt sie erst später, wenn sie statt großer Umschläge mit ihren Unterlagen kleine Briefe mit Einladungen bekommt.

Einer, der den Realschulabschluß schon hat, ist Muzaffer Baskaja. Doch der 22jährige fand in seinem Briefkasten bislang auch nur große Kuverts. Und das schon seit zwei Jahren. „Während der Schule habe ich mir keine Gedanken gemacht, was danach kommt“, gibt Muzaffer zu. Deshalb sei er auch durchs Abi gefallen. „Heute würde ich das nicht mehr machen“, sagt er. Doch als Schüler wußte er noch nicht, wie gut auch Jugendliche schon funktionieren müssen. 70 Bewerbungen hat Muzaffer geschrieben. „Was mich am meisten wurmt: Ich hab noch kein einziges Vorstellungsgespräch gekriegt.“

Zuerst dachte er noch, daß die Bewerbungstexte nicht gut genug seien. Doch als Muzaffer die Unterlagen einem Lehrer einer Weiterbildungsschule im Wedding zeigte, auf der er in der Zwischenzeit einen Lehrgang besuchte, schied das als Ablehnungsgrund aus. Der fand die Formulierungen gut. Den Firmen gefiel also sein Abschluß nicht, dachte sich Muzaffer. Abitur braucht man nicht nur für die Uni. Oder lag es daran, daß er Türke ist? „Da würde ich es mir zu leicht machen“, sagt er selbst.

Jetzt läuft sein Lehrgang aus, und Muzaffer hat nur noch einige Bewerbungen im Einzelhandel offen. Jeden Morgen, wenn er aufwacht, wird ihm bewußt, wie ungewiß seine Zukunft ist. Wenn er bis zum Herbst nichts findet, dann wird er erst einmal bei einem Bekannten in dessen Baufirma malochen. Nach drei Jahren könnte er dann über den zweiten Bildungsweg das Abitur nachholen. Das hätte er dann im Jahr 2002, und Muzaffer wäre 27 Jahre alt.