■ Der Klassenkampf kehrt in neuem Gewand zurück. Für ihre Kinder bevorzugen Altrevolutionäre Privatschulen
: Die Gleichen und die Supergleichen

Der Freistaat Sachsen will St. Afra in Meißen, eine der traditionsreichen Fürstenschulen und jahrhundertelang Pflanzstätte für den Nachwuchs an Pfarrern, Juristen und Gelehrten, in zeitgemäßer Form wieder eröffnen – aber mit ebenso hohen Ansprüchen an die Schüler und hohen Kosten. Würdige, begabte Schüler, deren Eltern das nötige Kleingeld fehlt, können Zuschüsse zu den Kosten bekommen. Man spricht von 1.000 Mark pro Monat, so daß wir erahnen, wie teuer ein Platz unter der neuen Bildungssonne werden wird. Offenbar gehen die Planer davon aus, daß es genügend Nachfrage seitens betuchter Eltern von ehrgeizigen Kindern für eine solche elitäre Einrichtung geben wird, die es ihnen ermöglicht, den Untiefen des öffentlichen Schulwesens zu entgehen.

Man mag einwenden, daß in Sachsen die CDU regiert und auch die Bezeichnung „Freistaat“, die sonst bloß noch Bayern führt, die Pflege von Biotopen des Konservatismus dort wahrscheinlich macht. Eines Konservatismus, der bildungspolitisch immer eher auf Auslese und Beschränkung, denn auf Förderung und Integration aller Kinder in eine Bildungsgesellschaft gesetzt hat. Aber so einfach kann man es sich nach vielen Jahren einer erfolgreichen, im wesentlichen sozialdemokratischen Bildungsreform nicht mehr machen. Es ist ihr in wenigen Jahrzehnten gelungen, die innere Schulorganisation zu humanisieren; sie hat die Lehrerbildung verwissenschaftlicht; sie hat den Zugang zur höheren Bildung allen ermöglicht, die sie anstreben. Waren es 1960, als ich die sogenannte Reifeprüfung machte, gerade fünf Prozent eines Jahrgangs, denen das gelang, so sind es heute, Tendenz weiter steigend, über 30 Prozent. Man sollte gar nicht darüber streiten, ob wir so viele Abiturienten und Studenten überhaupt brauchen, weil die Frage nach der Ökonomie sowieso nicht zu beantworten ist. Richtiger wäre es, in dieser Entwicklung einen maßgeblichen Beitrag zur gründlichen Demokratisierung, ja, Humanisierung der autoritären, illiberalen deutschen Gesellschaft zu erkennen.

Die Abschaffung der Prügelstrafe in der Volksschule und die Ersetzung des Paukers durch die Lehrerin, die lieber sozialtherapeutisch interveniert als prüft und zensiert, all das hat dazu beigetragen, daß unser Defizit an Zivilisierung sich merklich vermindert hat. Heranwachsende, die nicht kujoniert und eingeschüchtert werden, reagieren darauf ja gerade nicht mit Aggression und Wertezerfall, sondern ganz im Gegenteil, mit erhöhter Sensibilität und der Bereitschaft, sich für Tiere, den Frieden und behinderte Klassenkameraden ins Zeug zu legen. Oder sich wegen zunehmender Gewalt etc. zu sorgen...

So weit, so gut und lobenswert. Es war mir ein durchaus persönliches Bedürfnis, die sozialdemokratisch geprägte Bildungspolitik der vergangenen Jahre zu würdigen und ihre Erfolge hervorzuheben. Bloß dumm, daß die Erfolge von gestern die Niederlagen von heute sein können. St. Afra in Meißen ist nämlich längst keine konservative Ausnahme mehr. Schaue ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis herum, dann stelle ich fest, daß das Prinzip St. Afra bei Leuten, die sich progressiv, ökologisch bewußt nicht nur geben, sondern auch verhalten und bei Wahlen entsprechend ihr Kreuzchen machen, längst praktiziert wird. Meyers zum Beispiel haben nicht lange gebraucht, um zu merken, daß die städtische Kindertagesstätte mit ihrem Anspruch auf Integration von zwei behinderten Kindern pro Gruppe ihrem Lieschen nicht zusagt. Nach langem Suchen fanden sie eine private Einrichtung, in der ihr Töchterchen, und nicht bloß auf dem Umweg über ein behindertes Kind, sondern ganz direkt, angesprochen wird. Seitdem ist sie nicht mehr so zappelig und schläft auch besser durch, behaupten die Eltern.

Müllers haben sich entschlossen, ihre Tochter unter Vermeidung der Berliner Grundschule, die sechs, nicht vier Jahre dauert, auf ein geradezu berüchtigtes Gymnasium zu geben. Beide Müllers sind wissenschaftliche Angestellte. Sie sind der Meinung, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist und die Ausländerpolitik entsprechend geändert werden müßte. Was sie aber gar nicht gut finden, ist, daß ihr hochbegabtes und auch ehrgeiziges Mädchen namens Sarah in der Schule total unterfordert und als pädagogisch wertvolle Hilfskraft zur Förderung türkischer Mitschüler eingesetzt wird. Oder werden soll – das klappt bei den Kindern selten so, wie geplant.

Man erinnere sich an Piagets Forschungen: die Logik, die Moral – sie haben Entwicklungsgesetze, die man ungestraft nicht überspringen und ignorieren kann. Wie dem auch sei, Meyers und Müllers denken nicht mehr wie meine Eltern aufstiegsorientiert, nach dem Motto: Mein Kind soll es einmal besser haben als ich – Meyers und Müllers geht es viel zu gut, um solche Gedanken zu hegen. Sie pflegen die Empathie: Wie fühlt mein Kind, wie geht es ihm, was will es eigentlich, und was kann es...? Es sind, um es kurz zu machen, die handveredelten Kinder der progressiven Mittelschicht, die das Prinzip St. Afra gesellschaftsfähig machen. Bildungspolitiker aller Parteien wären gut beraten, die Erfolge der vergangenen Jahre richtig zu würdigen, aber auf der andern Seite die Augen vorurteilsfrei offen zu halten. Zehn Prozent aller Kinder besuchen heute bereits Privatschulen. Ein paar hundert Mark pro Monat, ein Engagement mit der Chance auf Gehör und Erfolg, locken viele Eltern dazu, ihr Kind auf eine Privatschule zu schicken. Heute haben wir es nicht mehr mit der Aufarbeitung gesellschaftlicher, zivilisatorischer Defizite zu tun. Das haben in der Bildungspolitik die Sozialdemokraten bestens besorgt. Nein, heute geht es um etwas anderes. Wenn die maßgebliche, progressive Mittelschicht ihre Kinder dem öffentlichen Schulwesen tendenziell entzieht, dann stellen sich andere Fragen.

Niemand, nicht Meyers, nicht Müllers, träumen von der Wiederkehr des Elitegedankens, der Auslese, der Diskriminierung von Ausländern, Mädchen oder Behinderten – was sie wünschen, ist die Durchsetzung der sensibel ertasteten Interessen ihrer ein, maximal zwei Kinder. Wenn sie eingeschult werden, können sie oft schon lesen. Da sehen dann die andern Kinder – sozial-kulturell oft total depraviert – sehr alt aus. Der Klassenkampf kehrt zurück; aber in ganz anderer Gestalt als der gewohnten. Privat sind die alten Revolutionäre konservativ – öffentlich können sie sich noch nicht äußern, die Diskussion ist blockiert. Dann bleibt nur der stille Ausweg nach St. Afra. Katharina Rutschky