Püppchenpapst auf Weltmission

„Bistu's Michael?“: Auf seiner Welttournee war Michael Jackson auch wieder zu Gast in unserer kleinen Stadt. 70.000 Seelen gaben ihm ihre grenzenlose Liebe. In rund zwei Stunden heilte er dafür dich, mich und Helmut Markwort  ■ Von Thomas Groß

„We are the world, we are the children“ – wahrscheinlich ist sie das schon, die grandios simple Grundformel, nach der so ein Michael-Jackson-Konzert funktioniert. Aber wie schwer zu erfüllen! 70.000 Seelen durchaus unterschiedlicher Schwärze wollen allein im Berliner Olympiastadion gespeist, ja: geläutert werden. Da sind die präpubertierenden Töchter, die so vielleicht ein letztes Mal an Papas Ärmel hängen. Pickelige, die heimlich schon Heavy Metal hören oder Techno. Knirpse, denen du auch kein X für ein U mehr vormachen kannst auf dem Gameboy-Sektor. Und da gibt es welche wie wir, die grinsen ja schon, bevor es überhaupt losgeht! Es liegt an der Stadionstimme, die, polyglott wie bei Papstbesuchen, verkündet, „die Geschichte“ beginne in 30 Minuten.

Die Geschichte? Als solche? Oder als Kindermärchen? Für „HIStory“, die hier erzählt wird, ist diese Unterscheidung irgendwie abhanden gekommen. Michael- Jackson-Konzerte fangen von vorne an, von gaaaanz ganz vorne. Videoschirme zu beiden Seiten der Bühne zeigen die Ankunft eines Außerirdischen, der, wahrscheinlich durch Selbstzeugung irgendwo da draußen im All entstanden, in seiner Kapsel auf uns zurast – vorbei an Menschenwerk wie der Sphinx, dem Chrysler Building und der Sixtinischen Kapelle. Puff!!! macht es, und das Shuttle, gerade noch virtuell, hat unter Magnesiumblitzen den Bühnenboden durchstoßen.

Die Silhouette, die daraus emporsteigt, wirkt bis zur Überbelichtung bekannt aus Film und Fernsehen, aber ist er's auch wirklich? Viel ist von Feuilletonisten geschrieben worden über Entkörperlichung, das „Verschwinden“ des MJ hinter seinem eigenen Bild – dabei ist doch sonnenklar, daß ohne den leibhaftigen Jacko nichts geht hier. „Michael, bistu's?“ scheinen die Sechsjährigenmünder fragen zu wollen, die gern jubeln und johlen würden, aber irritiert offenbleiben, weil immer noch alles ruckelt und zuckelt, weil kein rechtes Leben zu kommen scheint in die Gelenke der Gliederpuppe da oben, bis endlich, durch kollektive Anstrengung – ja, so muß es sein: durch eine Art Energieübertragung! – der erlösende Stromstoß hineinfährt, und der Tanz beginnt: „Stop pushin' me, stop pushin' me...“

Die Animation des Golem, die Gefühlsspende – das ist der Zentraltrick, mit dem er uns kriegt: dich, mich, alle. „I wanna be startin' something“ singt Jackson auf der betongrau gerahmten Bühne, aber zugleich ist ausgemachte Sache, daß nichts geht ohne „The way you make me feel“. Michael ist nun mal keines jener tätowiert autonomen Rockmonster, die niemanden brauchen auf der Welt außer vielleicht Johnny Walker und ab und zu mal harten Sex; ja, im Grunde nützt es ihm nicht einmal was, daß er so unermeßlich reich ist, in Mineralwasser badet und seinen eigenen Streichelzoo hat. Jacko, der „bekannteste Sterbliche unter der Sonne“, wie es in einer aktuellen Biographie heißt, ist und bleibt ein Mängelmodell, das nur mit unser aller Liebe als Brennstoff so einigermaßen über die Runden kommt. Wenn überhaupt!

Das soll das Stadion immer wieder begreifen, in den speziellen Momenten, wenn die – im Grunde reichlich konfuse – Show ins Stocken gerät, wenn der „King of Pop“ mal als einsamer Pierrot, mal in Gekreuzigtenpose erstarrt, bei stetig ansteigendem Libido flow. Ein Michael-Jackson-Konzert folgt der Dramaturgie einer Feldmesse – mit dem Höhepunkt nach der Wandlung, bei „Heal the world“, wo unser aller Mithilfe bei einem schwierigen Experiment gefragt ist. Der Rettung des Weltfriedens nämlich, szenisch in etwa so zu beschreiben: Panzer fährt durch Nebel auf Bühnenmitte (buuuh!), Soldat steigt aus und bedroht Leute und Michael mit Maschinengewehr (buuuuhh! Buuuuuuuuh!); Michael legt Hand auf Gewehrlauf (aaaah!); Gewehrlauf sinkt nach unten (ooooooh!!!). Welt gerettet, bestätigt durch Trümmerfrau, die Soldat, der weinend zusammenbricht und bereut, Sonnenblume überreicht (ja, Kasper, jaaaa! Hurraaa!).

Wie wohl Helmut „Fakten/Ficken“ Markwort das finden mag, der gegenüber auf der Ehrentribühne Platz genommen hat? Ein Konzentrator aufs Wesentliche ist er ja schon, dieser Michael Jackson, ein Püppchenpapst auf Weltmission, dem niemand böse sein kann, und der nur ein Problem hat: der Bedarf an Weltrettung, obzwar nicht unbedingt gesunken in den letzten Jahren, macht sich immer weniger an Superstars fest. Jackson kämpft gegen Love Parade & Co KG. Deutlich sind es die alten, die Prätechno-Stücke wie „Billy Jean“ oder „Beat it“, die am heftigsten bejubelt werden – da bricht auf lange Sicht was weg! Und Vater ist er ja mittlerweile auch, wenngleich durch Reagenzbefruchtung (sagt man).

Michael hat versucht, der Entwicklung Herr zu werden, indem er Remixe seiner Stücke anfertigen ließ, aber die unendliche Mischbarkeit aller digitalen Farben widerspricht tatsächlich dem Jacksonschen Anspruch auf Originalität und Dauer. Am Grund schimmert bereits der Boden durch, auf den dies alles gebaut ist: Illusionstheater, altehrwürdiges Schaustellergewerbe, mehr Soul als neuere Unterhaltungselektronik.

Ist Michael Jackson also „in seiner ontologischen Instabilität eine Figur des Übergangs“, wie neulich in der Zeit zu lesen war? Sagen wir so: Im Prinzip ja. Aber sind wir das nicht alle? Irgendwo? Wenn er oder wir nicht gestorben sind, wird auch nächstes Mal wieder hingegangen. Wunderkerzen und Winkelemente im Preis leider nicht inbegriffen.