„Das ist wirklich sehr skurril“

■ Wo bleibt die Freizügigkeit innerhalb der EU? Der Bremer Europarechtler Sieveking über die Abschiebung einer Französin

Vor wenigen Tagen wurde eine Französin abgeschoben. Zuvor saß sie sechs Wochen lang in Bremer Abschiebehaft, nachdem sie schlafend auf einer Parkbank gefunden wurde. Die taz sprach mit dem Bremer Experten für europäisches Recht, Professor Klaus Sieveking, über Freizügigkeit in der EU.

taz : Müssen schlafende EU-BürgerInnen mit ihrer Festnahme rechnen?

Klaus Sieveking:Der Zufall hat hier dazu geführt, daß eine EU-Bürgerin in eine polizeiliche Kontrolle geraten ist. Die Polizei hat natürlich das Recht, die Identität einer Bürgerin festzustellen. Bei ihr war das schwierig, weil sie keinen Ausweis bei sich trug. Als Ausländerin unterliegt sie aber der Pflicht, sich auszuweisen.

Hätte man sie laufen lassen müssen, wenn sie sagt, daß sie Arbeit sucht?

Das hätte sie glaubhaft machen müssen – und das wäre ihr schnell gelungen, wenn sie sich ausgewiesen hätte. Sie hätte auch als Touristin unbehelligt einreisen können. Für mindestens drei Monate genießen wir Freizügigkeit innerhalb der EU. Ausweisen muß man sich aber.

Sind solche Festnahmen nicht trotzdem ein Rückschritt?

Auf jeden Fall ein bedauerliches Zusammentreffen verschiedener Umstände. Wir haben leider noch kein allgemeines Freizügigkeitsrecht – trotz der seit 1993 bestehenden Unionsbürgerschaft. Der Aufenthalt in anderen Staaten ist immer noch an bestimmte Zwecke gebunden.

Könnte mir dasselbe in Holland geschehen? Dort muß man sich doch gar nicht ausweisen.

Wenn ein Mitgliedstaat die Pflicht, sich auszuweisen, für die eigenen Bürger nicht vorsieht, wird man das von Unionsbürgern auch nicht erwarten. Aber es ist natürlich immer ratsam, sich ausweisen zu können – wegen der Gefahr, sonst in den Strudel polizeilicher Maßnahmen zu geraten.

Die Französin „strudelte“sechs Wochen – im Gewahrsam.

Das ist kaum vorstellbar. In Zeiten des Ausländerzentralregisters und anderer Informations- und Austauschmöglichkeiten dürfte die Feststellung von Identitäten relativ schnell möglich sein.

Wenn nicht – möglicherweise weil die Behörden langsam arbeiten: Wo liegt die Grenze zur Freiheitsberaubung?

Grundsätzlich kann sich ein Abschiebungsverfahren bis zu 18 Monaten hinziehen; danach muß eine erneute richterliche Entscheidung herbeigeführt werden.

Die Französin wurde für eine unbefristete Zeit ausgewiesen. Dabei kann sie doch gemütlich mit dem Flieger nach Bremen zurücckehren, ohne daß sie kontrolliert wird.

Das ist wirklich skurril, zumal selbst bei freizügigkeitsberechtigten Bürgerinnen, die nach schweren Straftaten ausgewiesen werden, eine Ausweisung nur für einen begrenzten Zeitraum ausgesprochen wird.

Früher verwies man die Menschen der Stadtgrenzen. Heute weist man eine Europäerin aus Deutschland aus. Wann wird mit sowas Schluß sein?

Doch – wenn die innerstaatlichen Kontrollen so stark ausgebaut sind, daß es keinen Unterschied mehr macht, ob jemand in der Bundesrepublik oder sonstwo lebt. Diese ganzen Schengen-Vereinbarungen hängen ja damit zusammen, daß die innerstaatlichen Kontrollmöglichkeiten technisch noch nicht so sind, daß man in allen Staaten quasi zum gleichen Zeitpunkt Zugriff auf bestimmte Personendaten hat.

Sie empfehlen jugendlichen TouristInnen, die unter Pariser Brücken schlafen, also, immer einen Ausweis dabei zu haben?

Das ist richtig.

Der Französin wurde Schwarzfahrerei und versuchter Sozialhilfebetrug vorgeworfen – Ausweisungsgründe?

Wenn sie ihre Freizügigkeitsrechte nicht wahrnimmt...

...also nicht sagt, sie ist Touristin...

...dann kann sie ausländerrechtlich behandelt werden, weil sie nicht dem Aufenthaltsrecht der EWG unterliegt. Es wird das allgemeine Ausländerrecht angewendet, mit allen Folgen für die Ausweisungsentscheidung, die zum Beispiel auch aus generalpräventiven Gründen erfolgen kann.

Generalpräventiv? Gefährdet eine schlafende Französin die Sicherheit der Bundesrepublik?

Mir scheint ihre Obdachlosigkeit eher der Grund zu sein – der § 46 des Ausländergesetzes, unter den sie fällt, weil sie keine Freizügigkeitsberechtigung hatte.

Muß man das so sehen?

Man kann sicherlich auch anders reagieren. Am besten, man läßt arme Leute auf Parkbänken einfach schlafen. Eine Störung der öffentlichen Ordnung kann man so oder so interpretieren. Wir sind mit der europäischen Freizügigkeit noch nicht so weit. Das Elend ist das Ausländergesetz, nach dem bestimmte Leute eben immer noch eingeschränkt sind. Man will Leute, die in einen anderen EU-Staat gehen und dort Sozialhilfe wollen, bei uns so wenig wie anderswo haben. Interview: Eva Rhode