Kirchentag und Reformation

■ Auf der Hate Parade mischte sich vieles mit vielem: Kapuzenträger mit Dreadlocks, Supermoderne mit Plastelastiker. Und es ging unglaublich friedlich zu

Wahrscheinlich braucht der Haß einfach länger, um aus dem Bett zu kommen. Das mal als Arbeitshypothese. Aber empiriegestützt! Wir sehen uns um auf dem Schauplatz des Schismas, der angekündigten Technospaltung: Während die Tieflader des Großen Bruders sich längst in Bewegung gesetzt haben, steht ein einzelner Kleinlaster der Sandstrahlerei Wötzel aus 07639 Bad Klosterlausnitz an der Kreuzung vor dem Bunker-Club im Hinterland der Berliner Mitte. Wo, bitte, geht's hier zur „Hate Parade“? „Tja, die sollen irgendwie unterwegs sein, die Wagen“, aber nichts Genaues weiß man autonomerseits nicht. Bin ich meines Hasses Hüter?

Immerhin macht ein an der Ladefläche angebrachtes Transparent auf politische Ziele aufmerksam: „Fuck Commercial Love!“ Das Sound System „Hope Pirate“ beschallt erste TänzerInnen mit teils handgetrommelten Rhythm'n'Bass. In Dunkel gehaltene Jungmänner tragen T-Shirts, auf denen „Terror Worldwide“ oder „Break The Chain“ steht, und streichen semi- bis viertelfinster durch die Grüppchen. Polizisten in erstaunlicher Vielzahl umzingeln das Ganze wie Statisten in einem Theaterstück namens Dissidenz. Techno, so war's ja auch angekündigt, versteht sich hier mehr als Restspringerstiefeltum, Gefühl- und-Härte-Fraktion, mit einem Koffer noch in Punk, Hardcore und Industrial.

Aber in der eigenen Schwärze zu schmoren macht bei den Temperaturen ja auch keinen Spaß. Auch hier mischt sich vieles mit vielem: Kapuzenträger mit Dreadlocks, Dunkle mit Knalligen, Darkstepper mit Ausdruckstänzern, modernistische Plastelastiker mit gewissen Tendenzen hin zum Mittelalterspektakel, verkörpert durch einen Mönchskuttenträger und feuerschluckerartige Lederwamsfiguren. Sogar nackte Brüste sind vertreten, in diesem Kontext natürlich nicht als Objektwerdung des weiblichen Körpers im warenästhetischen Sinne zu verstehen, sondern als Ausdruck der Selbstbestimmung und Lebensfreude der Frau.

Gerade sind wir dabei, die Hate Parade als nettes, aber ein wenig unspezifisches Straßenfest zu den Akten zu nehmen, da rollt nach 16 Uhr doch noch ein zweiter Wagen in den Seitenarm der Friedrichstraße. Und noch einer! Und da, endlich, der Superblaster der „Gabba Nation Berlin“, mit ersten hochgepitchten Headbangern an Bord! Plötzlich kommt Bewegung in die Sache. Der Zug aus vielleicht 500 Leuten, fünf Lastern und einem Getränkewagen, der die pittoresk aufgerissene Sanierungsmeile in Richtung Kulturhaus Tacheles rollt, wird angeführt von Force Inc., dem Wagen des Frankfurter Intelligenzler-Labels, auf dem der stämmige Jungstar Panacea gutgelaunt Schutt-und-Asche-Sounds aus der Vorhölle seines walkmangroßen Samplers entläßt. Auf dem Hardcorewagen wird inzwischen schwer gegabbert. Weiter hinten sogar gepunkt. Und die Haßkappen freuen sich kindisch über ihre Indianertänze. Und die Intelligenzler begutachten mit glänzenden Augen das Equipment. Und die Modernisierungsverlierer haben auch eine gute Zeit. Und das Ganze ist unglaublich friedlich, und die Sonne scheint in aller Herzen und ...

... aber Moment mal – ist dies hier nicht ein Bericht von der sogenannten „Hate Parade“? Aber das ist es ja gerade! Solange alle um den gleichen Sampler tanzen, liegen zwischen good, bad und ugly bloß ein paar Denkschachfiguren und Beats pro Minute. Der Haß, modifizieren wir unsere Ausgangsthese, ist unter seiner Kappe nicht nur ein Hedonist, er ist auch vom gleichen Stamm. So ähnlich wie 97 der Umzug der Unzufriedenen muß die Love Parade sich angefühlt haben, als Techno noch als „kranker“ Sound einer Minderheit daherkam. Und genau deshalb kann der Haß – jenseits von dem, was er „politisch“ „will“ – auch gar nicht anders, als das Böse zu propagieren und das Gute zu tun: Wenn die Love Parade der Kirchentag des Techno ist, dann ist die Hate Parade nicht Diaspora, sondern Reformation.

Als Erneuerer vom Rande nimmt sie sogar vorweg, was Dr. Motte & Co mit dem an die Grenzen des linearen Wachstums gestoßenen Riesenbaby Love Parade vorhaben: Dezentralisierung bei gleichzeitiger Globalisierung. Nächstes Jahr Abfahrt in Tokio, Marienbad und Wanne-Eickel! Thomas Groß, Berlin