„Besser als nur Sozialhilfe“

Statt bloß Stütze zu zahlen, gründete Wiesbaden lieber einen Biohof: Der gibt Arbeitslosen eine Chance und der Stadt satten Gewinn  ■ Aus Mechtildshausen Martina Bittermann

Das ist ein schöner Ort hier“, sagt Elisabeth Kertesz und streicht dick Butter auf ihr Brot. Frühstückspause. Die Sonne scheint durch das Glasdach des Gewächshauses. Kaum hat sie einen Bissen in den Mund genommen, fragt wieder ein junger Kollege nach Karotten. Den ganzen Tag über prasseln die Fragen auf sie ein: Wohin kommt der Schnittlauch, sind die Orangen schon sortiert? Elisabeth Kertesz (53) verwaltet die Produkte des Biohofes Mechtildshausen bei Wiesbaden. In der Halle neben den Gewächshäusern verteilt sie die Erzeugnisse der Staatsdomäne: Äpfel für den Wochenmarkt in Wiesbaden, Mangold und Schnittlauch für den hofeigenen Laden, Kräuter und Kartoffeln für das Domänerestaurant.

Elisabeth Kertesz kann wohl bis zur Rente auf der Staatsdomäne arbeiten. Ein Glücksfall für die gelernte Gärtnerin, die 1990 mit ihren Kindern aus Siebenbürgen nach Deutschland kam.

Neben ihr auf einer Kiste sitzt Friedrich Malko. Auch der 62jährige mit den weißen Haaren und dem freundlichen Lächeln hätte auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr gehabt, als er vor zwei Jahren aus Tadschikistan übersiedelte. In seiner alten Heimat hat er auf Kolchosen große Maschinen gefahren. „Nicht ganz das gleiche hier“, sagt er, „aber trotzdem, alles ist besser als Sozialhilfe.“

150 Langzeitarbeitslose arbeiten auf Hessens größtem Ökohof im Rahmen des Wiedereingliederungsprogrammes „Arbeit statt Sozialhilfe“. Nach zwei Jahren müssen sie sich einen neuen Job suchen – nur schwer Vermittelbaren dürfen länger bleiben. Doch die Chancen bei der Arbeitssuche stehen nicht schlecht: Vier von fünf Absolventen des Programmes aus den Jahren 1994 und 1995 haben mittlerweile einen festen Job.

Die Staatsdomäne Mechtildshausen gehört dem Land Hessen und ist an die Wiesbadener Jugendwerkstatt verpachtet – als Beschäftigungsprojekt der Stadt, das seit über zwölf Jahren das Ziel verfolgt, Menschen die auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt ohne Perspektive sind, neue Berufschancen zu eröffnen. Ein wichtiger Teil dieser Arbeit findet auf dem Biolandhof mit seinen 320 Hektar Land statt. Ein historischer Ort. Die Domäne diente schon den Römern als Versorgungsgut.

Das Gehöft liegt alles andere als idyllisch. Mitten im Rhein-Main- Gebiet in einer von Autobahnen durchschnittenen Landschaft. Der Hofeinfahrt gegenüber: die stacheldrahtbewehrten Mauern der US-Airbase Wiesbaden-Erbenheim. Die über 400 Jahre alten Gebäude sind aufwendig, teilweise mit Hilfe alter Handwerkstechniken, renoviert, die Läden über den Pferdeställen frisch gestrichen. Es waren ehemalige Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose, denen in zehn Jahren das Kunststück gelang, aus einem abbruchreifen Gemäuer eine 45-Millionen-Mark- Immobilie zu machen.

Im Hofgeviert herrscht reger Betrieb: Da läuft der Bäcker, ein Blech Kuchen balancierend, von der Backstube zum Restaurant. Ein Lehrling trägt von den Hühnerhäusern frische Eier zum Hofladen. Ein Pferdewirt führt eine Trakehnerstute über den Hof. Mütter mit Kleinkindern an der Hand spazieren zum Hofladen, wo im Ambiente eines Feinkostladens angeboten wird, was der Hof hergibt: Fleisch von artgerecht gehaltenen Charolaisrindern. Schinken vom schwäbisch- hallischen Schwein, einer alten deutschen Rasse. Natürlich stammt auch die Milch für den Gorgonzola aus eigener Käserei, und das Getreide für Plunderstückchen und Vollkornbrot aus der Hofbäckerei wächst auf den Feldern um die Ecke.

Der Hofladen ist der Arbeitsplatz von Marion Riehl, Einzelhandelskauffrau im zweiten Lehrjahr. So ganz kann sie es nicht verstehen, daß die vielen Kunden dazu bereit sind, für Fleisch, Käse, Eier und Gemüse erheblich mehr zu zahlen als im Supermarkt. Sie hat hier nach zwei Jahren und unzähligen Bewerbungen endlich einen Ausbildungsplatz gefunden. Ebenso wie Denise Leonhard, die Kollegin im Restaurant. Während die 17jährige Restaurantfachfrau im zweiten Ausbildungsjahr auf den Tischen Tulpen in Vasen arrangiert, bruzzeln die Köche in der Küche: Diesmal gibt es gebeizten Charolaisrinderrücken mit Schalottenvinaigrette und Blattsalaten. Alle Zutaten stammen vom Hof und haben sogar die Testesser für die Schlemmerbibel Gault Millaut überzeugt. Sie verliehen dem Domänerestaurant stolze 14 Punkte.

Marion Riehl und Denise Leonhard sind zwei von insgesamt 230 Auszubildenden, die bei der Wiesbadener Jugendwerkstatt in einem von 16 Berufen eine Ausbildung absolvieren.

Auch betriebswirtschaftlich spielt sich vor den Toren Wiesbadens eine Erfolgsstory ab. 81 Millionen Mark investierte die Stadt Wiesbaden zwischen 1987 und 1995, indem sie statt Sozialhilfe Geld ausgab für die Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen der Jugendwerkstatt. Und die erwirtschaftete mit dieser „indirekten Sozialhilfe“ 143 Millionen Mark. Eine Rendite von 75 Prozent in neun Jahren.

„Wir sind so erfolgreich, weil wir uns nie in Befindlichkeitsdebatten gesuhlt haben“, sagt Jörg Bourgett, ehemals Leiter des Wiesbadener Jugendamtes. „Wir haben uns streng am Markt orientiert und dafür gesorgt, daß hier Arbeit und Ausbildung eine Sache von Kopf und Bauch ist“, sagt Bourgett, immer die Reval in der Hand und Zitate von Pestalozzi wie Adorno im Mund. Der Trend zu Ökoprodukten und feinem Essen hat der Staatsdomäne entscheidend geholfen. „Und“, fragt Bourgett, „gibt es eine bessere Motivation für Mitarbeiter als ein erfolgreicher Betrieb verbunden mit dem Gefühl, etwas zu schaffen, für das andere bereit sind, viel Geld auszugeben?“

Und die Staatsdomäne Mechtildshausen wächst weiter: Erst Pfingsten eröffnete auch noch eine Weinstube. „Ökowein im ländlichen Ambiente“ – streng am Markt orientiert.