Kurt Scheels Lichtspiele
: Das Ästhetische in Gestalt von Marika Rökk

■ Die Wahrheit über die „Altenwerder Lichtspiele“ – Zur Geschichte des deutschen Nachkriegskinos

Am ersten Weihnachtstag 1945 war es soweit: Die „Altenwerder Lichtspiele“ öffneten ihre Pforten mit der Vorführung von „Frauen sind doch bessere Diplomaten“. War das eine Freude! Rammelvoll war das Kino, ein ehemaliger Tanzsaal, und die beiden Kanonenöfen bullerten nur so, denn obwohl dies „die schlechte Zeit“ war, gab es genug Heizmaterial: Jeder Besucher mußte nicht nur eine Eintrittskarte lösen, sondern auch noch in Naturalien zahlen, ein Brikett oder einen (womöglich gefringsten) Kohlebrocken mitbringen.

Da strahlen „de Kinokerl“ – das ist mein Vater – und seine Frau, die an der Kasse sitzt. Nicht nur des schnöden Mammons wegen, sondern durchaus im Bewußtsein einer kulturpolitischen Sendung: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, und gerade nach diesem schrecklichen Krieg war ja der Hunger der Deutschen nach geistiger Nahrung groß wie nie zuvor! Und so erschien nun das Ästhetische in Gestalt von Marika Rökk im Kino auf der kleinen Elbinsel Altenwerder bei Hamburg, einem Dorf mit etwa zweitausend Einwohnern: Fischern, Bauern, Hafenarbeitern. Es war das zweite Kino meines Vaters, das erste, die „Neuhofer Lichtspiele“, war 1944 „ausgebombt“, zum Glück aber waren die Maschinen (Ernemann!) und ein Teil der Bestuhlung unbeschädigt geblieben, und so zog er mit Sack und Pack auf die andere Seite des Stromes, nach Altenwerder.

An den Film selbst erinnere ich mich nicht mehr, ich war ja auch noch gar nicht geboren, aber an die heitere Stimmung an diesem Weihnachtsabend, durchaus keine Selbstverständlichkeit bei diesem eher grimmen Publikum, das mit schwieliger Faust dem Meer und der Scholle ihre Gaben abtrotzt... Aber heute ließ man sich verzaubern durch Musik und Gesang dieses Lustspiels aus dem Jahre 1939, des ersten Ufa-Farbfilms übrigens, vielleicht kein Meilenstein deutscher Filmkunst wie „Triumph des Willens“ oder „Jud Süß“, aber sicher auch kein „dünnes Kostümspielchen“, wie das „Lexikon des Internationalen Films“ später mäkelt – wer damals nicht dabei war, das ist jedenfalls meine Meinung, kann doch überhaupt nicht mitreden!

Die Nachkriegszeit! Hunger und Entbehrung und außerdem der Schock darüber, daß es in diesem Krieg, der ja im deutschen Namen geführt worden war, Unregelmäßigkeiten, teilweise sogar Verbrechen gegeben hatte. Aber eben auch eine Zeit des Zusammenhalts, der Solidarität unter Volksgenossen – es ging damals ein Ruck durch die Deutschen, und statt sich in Äußerlichkeiten zu verlieren, in Ablenkungen durch die Fun-Gesellschaft, wie es heutzutage leider die Regel ist, besann man sich aufs Wesentliche, auf innere Werte und andersgelbe Nudeln: Politisch und ökonomisch schlechte Zeiten sind künstlerisch und moralisch oft gute Zeiten.

Ob der kulturelle Beitrag zum Wiederaufbau, den die „Altenwerder Lichtspiele“ in diesen ersten Nachkriegsjahren geleistet haben, hohen cineastischen Standards genügt hat? Das mag man füglich bezweifeln, die meisten Filme stammten ja aus der Nazizeit, aber es wurden natürlich nur die völlig unpolitischen gezeigt, wie „Akrobat schö-ö-n“, „Der Berg ruft“, „Münchhausen“, „Bel Ami“, dafür sorgte schon die englische Besatzungsmacht. Sie war strenger als die amerikanische und verfügte auch, daß nur an vier Tagen, von Freitag bis Montag, gespielt werden durfte; „der Tommy“ war damals ziemlich nachträgerisch. Handwerklich gesehen waren diese Filme auch gar nicht schlecht, und im übrigen gab es kaum andere: keine amerikanischen, sehr selten englische, und die deutschen Produktionen nach 45 wie Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ oder Käutners „In jenen Tagen“ waren doch recht ungemütlich und so ausgesprochen politisch, Trümmerfilme eben, und Ruinen hatte man nun eigentlich genug gesehen, warum auch noch im Kino?

Das Altenwerder Publikum, ganz normale Deutsche, zog jedenfalls heitere und besinnliche Filme vor, „13 Stühle“ (1938), „Es war eine rauschende Ballnacht“ (1939), „Kohliesels Töchter“ (1943), „Die Feuerzangenbowle“ (1944) mit dem unvergessenen Heinz Rühmann – schon in den Nazijahren hatte er, wie kein anderer, gute Laune verbreitet, und auch jetzt, in der bitteren Stunde der Niederlage, schenkte er den Menschen ein Lächeln...

Diese harten, für den Kinokerl aber schönen Jahre – der Saal war immer voll, vergnügungs- bzw. kulturmäßig gab es sonst ja nichts; und wenn die Fischer und Bauern noch unbedingt eine Karte ergattern wollten, rückten die alten Geizknochen sogar einen Räucheraal oder bißchen Grünkohl raus – gingen nun zu Ende. Zwei Ereignisse veränderten 1948 das Leben der Einwohner von „Trizonesien“: die Währungsreform und meine Geburt. Kurt Scheel