Frankreich holt die Moderne ins Klassenzimmer

■ Der neue Erziehungsminister Claude Allègre will die Jugend seines Landes auf das 21. Jahrhundert vorbereiten: Mehr Austausch zwischen Schule und Praxis

Die Operation Baccalaureat 1997 – mit ihren frankreichweiten identischen Fragen für alle Abiturienten zwischen Finisterre und Ajaccio – war gerade beendet, da erklärte der neue Erziehungsminister, Claude Allègre, er wolle „den Mammut abspecken“. Gemeint ist die in der III. Republik von Jules Ferry geschaffene und in den vergangenen 125 Jahren kaum veränderte „éducation nationale“. Gemeint ist auch ihr mehr als eine Million Beamte starker Apparat, den der Minister kurzerhand mit der Roten Armee vergleicht und „entbürokratisieren“ will.

Jules Ferry ist ein republikanisches Nationalheiligtum: Sein Name findet sich in beinahe jedem französischen Ort auf Straßenschildern wieder. Er übertrug in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Trennung von Staat und Kirche auf das Schulwesen und schuf damit die laizistische, kostenlose „éducation nationale“. Bis heute gilt sie neben der Wehrpflichtigenarmee als die republikanische Institution schlechthin. Hier entstehen die „citoyens“.

Ausgerechnet diesen Ferry bezeichnet sein sozialistischer Amtsnachfolger Allègre jetzt als überholt. „Wir müssen die nationale Hierarchie zerschlagen, die auf Diplomen beruht, die einer im Alter von 20 Jahren erworben hat“, sagt er und plädiert für mehr „Hin und Her“ zwischen dem geschützten Raum Schule und der Praxis.

Die größte Lehrerorganisation, die SNES, die bei der Personalpolitik in der „éducation nationale“ ein entscheidendes Wort mitzureden hat, sieht des Ministers Pläne als Drohung. Allègre solle sich lieber auf das „viel wichtigere Thema“ des schulischen Versagens konzentrieren, empört sich die SNES- Vorsitzende Monique Vuaillat. Auch listet sie auf, was trotz rigoroser Kontrollen an den Schultoren alles in den Pausenhof hinüberschwappt: So ist zwar das Tragen jedweder religiöser Symbole verboten, aber der „Kopftuchstreit“ brach just zu dem Zeitpunkt aus, als Frankreich insgesamt den wachsenden islamistischen Integrismus wahrzunehmen begann. Dutzende von türkischen und nordafrikanischen Schülerinnen weigerten sich vor drei Jahren plötzlich, die Kopfbedeckung zu Hause zu lassen. Obwohl alle vorübergehend vom Unterricht ausgeschlossen wurden, flammen bis heute immer wieder Konflikte um das Textil auf; junge Musliminnen ziehen es vor, zu Hause zu büffeln, statt sich der laizistischen Norm zu fügen.

Ähnlich verhält es sich mit anderen Themen. So entdeckte Frankreich im Gefolge der Dutroux-Affäre im benachbarten Belgien die Pädophilie im eigenen Land und auch in der Schule. Mit der wachsenden sozialen Not im Land wächst die Zahl der Kinder, die aus Geldmangel nicht mehr in die Mensa gehen. Auch nehmen in den letzten Monaten die Messerstechereien zwischen Schülern zu.

Allègre will nicht nur die Beamten aufrütteln, sondern auch die Schule an sich verbessern. Er will neue Technologien wie Computer in die Klassenzimmer holen, um so die französische Jugend auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten. Schule und Forschung sollen sich austauschen, indem die Lehrer an die Universität geschickt und Wissenschaftler in die Schulen geholt werden. Der Geophysiker Allègre träumt von einem Raumfahrttag, wenn wieder eine Ariane startet, und einem Atomtag, wenn der Superphönix in Creys Malville zumacht.

Der Nachholbedarf an Wissen um die neuen Technologien ist in Frankreich groß. Das hat unter anderem Präsident Jacques Chirac bewiesen, der sich erst letztes Jahr ins Internet einweisen ließ und seither nicht müde wird, davon zu erzählen. Woher allerdings das Geld für die ehrgeizigen Pläne kommen soll, das kann der sozialistische Nachfolger von Jules Ferry nicht sagen. „Es wird mehr Mittel im Erziehungsetat geben“, versicherte Claude Allègre. Nicht ohne schnell hinzuzufügen: „Ich bin allerdings kein Weihnachtsmann.“ Dorothea Hahn, Paris