Pollards wilde, verwegene Nachhut

■ Werfen mit Fragen und Bierbüchsen: Guided By Voices grüßen aus dem wilden Rockerleben in Dayton, Ohio. Extra geeignet für die Sinnkrise im Breitwandformat

Es ist kaum zu fassen: Robert Pollard, der die letzten zwanzig Jahre in Sachen Rock 'n' Roll unterwegs war, ist trotz Jetlag beim Interviewtermin im Foyer eines Hamburger Hotels frisch am Start und wirkt, als hätte er das letzte Jahr unter Floridas Sonne verbracht. Aufgeräumt, freundlich und nicht ohne Humor erzählt der Mann, der der elektrischen Gitarre ihren guten schlechten Ruf zurückgab, Geschichten aus dem wilden Rockerleben in Dayton, Ohio.

Die Sache mit der Heimatzeitung zum Beispiel, die dem ehemaligen Grundschullehrer bei Verwandten und Bekannten den Ruf eines trunkenen Schweinerockers eingetragen hat: „Dem Typen, der damals diesen Scheiß über uns geschrieben hat, habe ich es kräftig gezeigt. Der schreibt inzwischen keine Zeile mehr über Musik, der macht jetzt nur noch Filmkritiken!“

Allerdings hält man Guided by Voices, Pollards Band, zu Hause immer noch für eine local alternative Band, die „Low-Fi“ macht. „Low-Fi? Als ich das zum erstenmal hörte, hatte ich keine Ahnung, was das sein sollte. Aber anscheinend hat uns dieses Etikett Aufmerksamkeit verschafft, und immerhin können wir inzwischen die Stromrechnung bezahlen – was soll's.

Doch mit diesen minimalistischen Punktypen, die nur Krach machen, um mal ordentlich rumzulärmen, hat unsere Musik herzlich wenig zu tun. Wir mögen die Beatles und The Who und versuchen live, unsere Sachen wie klassische Rockmusik rüberzubringen.“

Doch die dezidierten Verfolger von Guided By Voices vermuten aufgrund der surreal anmutenden Alben- und Songtitel und der nicht unbedingt zugänglichen Lyrics eher einen Spaziergang an der Grenze zur Kunst als schlichte Begeisterung für ehrliche, handgemachte Rockmusik. Darüber hinaus übertrifft Pollards Produktivität alle Erwartungen: Zirka 13 Longplayer im Vierspursound seit dem 86er Debüt „Forever Since Breakfast“, unzählige Split-Singles, EPs, 7-Inches, halboffizielle Bootlegs und Soloprojekte summieren sich zu einem mächtigen ×uvre, das sich, anstatt eine klar überschaubare Entwicklung zu dokumentieren, mit jedem neuen Release selbst hinterfragt. Da müssen fünfzig Sekunden für einen Song reichen, und wenn gerade kein passender Refrain zur Hand ist – wen schert's? Wo ein schlechter Popsong die falsche Frage mit einer falschen Antwort beantwortet und ein guter die richtige Gegenfrage stellt, werfen Guided By Voices jenseits dieser Grenze mit jedem Album neue Fragen in den Raum.

Diese auf der Bühne gerne krachig inszenierte Vorstellung eines fortschreitenden Werkes, das eher wuchert als festlegt und ausformuliert, ergibt keinen Golf in Grunge- Core-Edition.

Aber es liefert immerhin den rostfreien Unterboden für dein günstig erstandenes 93er Postrockmobil, das mit wackeligen Rädern seit einem Monat auf dem Bürgersteig parkt und nur noch von den crazy Lackschichten zusammengehalten wird, die jährlich frisch draufkommen. Laß eine Band wie Pavement vorne gehen, Trans Am und Tortoise die Flanken decken oder umgekehrt – Pollards wilde verwegene Nachhut, die irgendwo da draußen zwischen regredierendem Kleinstadtkerlemilieu und der coolen MTV-Boheme steckengeblieben ist und mit durchdrehenden Rädern immer tiefer im Boden versinkt, kümmert sich um die Reste. Die eine wie auch die andere unbewältigte Sehnsucht wird mitgenommen und zerlegt.

Für Sinnkrisen im Breitwandformat, die im avancierteren Popmilieu gerne in der Faszination durch unverdorben verdorbene Musik enden, darf es allemal ein Album wie das gerade erschienene „Mag Earwhig!“ (Matador/Rough Trade) sein. Aus dem zu erwartenden Ruhesitz ist eine wilde Baustelle mit dem Appeal von Basement-Tapes, Pubrock und gerissenen Saiten geworden, die noch immer genügend Fallgruben bereithält.

Die neue fällt zwar – nach strengeren Kriterien der Stiftung Warentest – im Vergleich zu den Vorgängerinnen „Under The Bushes, Under The Stars“ und „Alien Lanes“ ein ganzes Stück ab, doch von einem Opener namens „Can't Hear The Revolution“ über Paraphrasen auf den Typus des melancholischen Singer/Songwriters bis hin zum hinterhertretenden Büchsenbier-Brüller ist alles drin.

Ist Pop so simpel? Geht Rock so einfach? Die mutmaßliche Antwort lautet nach ein paar Miniaturen aus Robert Pollards Feder: Sieht ganz so aus, hört sich ganz so an, ist ganz nah dran. Man muß dazu nicht einmal Pollards Vorstellung von Revolution teilen: „Die Revolution? Na ja, wenn wir alle auf der Veranda sitzen, die Natur anschauen und dazu akustische Gitarre spielen.“

Gunnar Lützow