Fettflecken des Kulturalismus

Seit der Gründung gilt die documenta als Sinnbild für Freiheit, Humanität und den Sieg des Individuums – doch ihr Programm blieb immer diffus. Die diesjährige documenta-Leiterin Catherine David verlief sich im Wortnebel ihrer Informationspolitik, und hinter den Kulissen krachte es  ■ Von Marius Babias

Arnold Bode, der willensstärkste unter den desorientierten Kunstliebhabern Nachkriegsdeutschlands, hatte einen ebenso simplen wie genialen Plan. Er, der von den Nazis aus dem Amt gejagte Werklehrer und Maler, wollte der jungen Demokratie, die sich gerade auf die Wiederaufrüstung vorbereitete, kulturellen Flankenschutz geben. Die BRD, so sein Köder für die zunächst abgeneigten Kulturpolitiker Kassels, müsse Wiedergutmachung an der Nazi-Kulturbarbarei leisten. Am besten mit einer Weltausstellung, die alle vier, später alle fünf Jahre stattfinden sollte. Da traf es sich gut, daß die „entartete Kunst“ von den Nazis offiziell verfolgt und von Göring insgeheim gesammelt worden war. Es durfte keinen Zweifel daran geben, daß alles, was von den Nazis verteufelt worden war, in der Kulissenlandschaft der Demokratie strahlend und unschuldig erschien. Bevor es überhaupt ein Wort dafür gab, praktizierte ihn Bode bereits: Kulturalismus. Er verband die Wiedergutmachung an den „entarteten“ Künstlern mit einem Kniefall vor dem Abstrakten Expressionismus. Der Siegeszug der Abstraktion im alliierten Nachkriegseuropa resultierte aus einer doppelten „Appeasement“- Doktrin. Das wußte auch Arnold Bode. Doch er argumentierte kunstpolitisch, daß die Abstraktion die Lehren aus dem Faschismus ziehen würde, obwohl er genau wußte, daß es bis zu diesem Zeitpunkt keine kritische Aufarbeitung der „entarteten Kunst“ gegeben hatte.

In diesem kulturpolitischen Poker mischte auch der CIA mit. Die Protagonisten des Abstrakten Expressionismus wurden – nicht nur von McCarthy – zunächst des Kommunismus verdächtigt. Nicht einmal zu Unrecht, denn Barnett Newman verstand sich in der Tradition Kropotkins und Jackson Pollock in der Tradition der mexikanischen Muralisten. Alfred Barr, damaliger Direktor des Museum of Modern Art, gab dem CIA zu verstehen, daß sich mit der Abstraktion der Kalte Krieg munitionieren ließe. Die vom CIA mitfinanzierte Europatour der Abstrakten Expressionisten 1958 durch Basel, Mailand, Berlin, Amsterdam, Brüssel und London begründete die ästhetische und ökonomische Vormachtstellung der USA im Kunstmarkt.

Die Moderne, so Serge Guilbaut in seinem demnächst auf deutsch erscheinenden Buch „How New York Stole the Idea of Modern Art“ (Verlag der Kunst, Berlin/Dresden), wurde insgesamt zur Metapher für Freiheit, Humanität und Demokratie deklariert. Der Berliner Ausstellungsmacher Christos M. Joachimides, ganz im Sinne Bodes, drückt das so aus: „Derjenige, der – ironischerweise – die Moderne rettete, war Hitler. Indem Hitler die Moderne verfolgte, hat er sie zur Märtyrerin werden lassen. Derjenige, der angetreten war, um die Moderne zu zerstören, verhalf ihr in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu einem Siegeszug, der in der Kulturgeschichte seit der Gegenreformation einmalig ist.“

Hitler – der Patenonkel der documenta. Weil es den Sozialistischen Realismus einzudämmen galt, wurde „entartete Kunst“, darunter der irrationale Expressionismus, pauschal mit Humanität gleichgesetzt. Nur so konnte Bode 1955 die allererste documenta durchsetzen und institutionalisieren, allerdings auf Kosten des Realismus, der diesseits des Eisernen Vorhangs für Jahrzehnte inkriminiert blieb. Ein Maler wie Otto Dix stand zum zweitenmal auf der schwarzen Liste, diesmal bei den Alliierten, während der Expressionist Johannes R. Becher erster Kulturminister der DDR wurde.

Dieser Geburtsfehler wirkte sich auf die folgenden documenten fatal aus. Einmal imprägniert, kriegte man die Fettflecken des Kulturalismus nicht mehr raus. Immer größer, bunter, zeitgenössischer und marktgerechter wurde die documenta, schließlich die wichtigste Kunstausstellung der Welt. Die documenta 1 (1955) zeigte 670 Werke von 148 Künstlern aus 13 Ländern, sie kostete 364.000 Mark und zog 130.000 Besucher an. Die documenta 9 (1992) explodierte auf 1.000 Werke von 196 Künstlern aus 37 Ländern, sie verschlang 19 Millionen Mark und hatte 609.000 Besucher.

Alles, was nach Realimus roch und nach Dritter Welt schmeckte, wurde in den ersten vier von Bode verantworteten documenten ausjuriert. Während der documenta 6 (1977) brach der Grundkonflikt auf: Aus Protest gegen die Teilnahme der DDR-Maler Willi Sitte, Werner Tübke, Berhard Heisig und Wolgang Mattheuer hängten die BRD-Maler Markus Lüpertz und Georg Baselitz ihre Bilder am Eröffnungstag ab.

Die documenta 5 (1972) gilt als die beste aller Zeiten, weil es dem Ausstellungsmacher Harald Szeemann gelungen war, die ideologische Vorbelastung der Gründerzeit auf ein Minimum zu reduzieren. Szeemann machte einen zeitgenössischen Schnitt und stellte die Kunst neben die Nicht-Kunst der Devotionalien, der Propaganda und der Science-fiction. Er verweigerte sich der starren Polarität zwischen den zwei großen Kunstrichtungen jener Zeit, dem Realismus und der Konzept-Kunst, öffnete ein neues Feld, das der Prozessualität, und erfand dafür den Begriff „Individuelle Mythologien“ (als Buch publiziert im Merve Verlag, Berlin 1982). Das Konzept des Gesamtkunstwerks wurde in eine radikalindividualistische Formel gewendet, die in der Aufhebung von Ost-West und Individuum-Kollektiv ebenso regressiv-romantizistisch wie politisch wirksam erschien: „Der Hang zum Gesamtkunstwerk ist der titanische Elan zur Verwirklichung des irdischen Paradieses“, so Szeemann. Die FAZ mokierte sich damals: „Elitärer ist nur noch Bayreuth.“ Der neue Parzival hieß Joseph Beuys, er richtete in Kassel sein Büro für direkte Demokratie ein, jeden Tag Diskussionen und Aktionen bis zur Erschöpfung.

Die documenta 9 (1992), von Jan Hoet verantwortet, zeigte dann, was aus Szeemanns „individuellen Mythologien“ 20 Jahre später geworden war, eine riesige Travestie-Show für Touristen, Sponsoren und Medien. Ex-Boxer und Frauenfreund Hoet hatte im Vorfeld während einer Podiumsdiskussion mit Heiner Müller Verständnis für den Vergewaltiger Mike Tyson gezeigt: „Das kann jedem passieren.“ Auf die sprachlichen Ausscheidungen des Ausstellungsmackers ließen die Künstler Taten folgen. Der Körper – künstlerisches Nebenprodukt der Postmoderne-Diskussion der 80er Jahre – stand im Mittelpunkt der documenta 9, „Anal Art“ war der neue Trend. Ilya Kabakov, Mike Kelley und Attila Richard Lukacs installierten Klos und Pissoirs. Wim Delvoye flieste den Boden der neuen documenta-Halle mit Scheiße aus. Louise Bourgeois richtete einen Raum der „Körperflüssigkeiten“ ein. Jean-Michel Othoniel bastelte ein zerbrechliches, sensibles, formidables Arschloch.

Die documenta 9 verhalf einer bis dahin hinter Idealen wie Autonomie, Utopie und Gesellschaftskritik versteckten Trägerstruktur des Kunstbetriebs – nämlich das Abschöpfen geistiger Ressourcen auf materieller Basis – ungeschminkt zum Durchbruch. Das Prinzip kapitalistischer Arbeitsteilung wurde zum Prinzip der Kunst erklärt. Beispiel Sponsoring: Tabakkonzern Reemtsma, einer von acht Sponsoren der documenta 9, ließ Hoet eine „West“-Zigarettenschachtel als limitierte Edition gestalten. „Kunst bietet keine klaren Antworten. Nur Fragen“, hieß es da auf der Packung. Reemtsma, den Blick auf die Märkte des Ostens gerichtet, finanzierte auch das Mosaik des russischen Künstlers Konstantin Zvezdotchotov. Zvezdotchotov wollte seine Hommage an die russischen U-Bahn- Bauarbeiter ursprünglich in einer Brückenunterführung installieren, doch mit Hilfe von Jan Hoet wurde er überredet, das Werk an einem prominenteren Ort, dem Zwerenturm, anzubringen.

Ob Schmuck und Krawattenklemmen mit dem d9-Logo oder VIP-Service: Die documenta weckte Bedürfnisse nach Schönheit und Luxus, um sie anschließend befriedigen zu können. Jan Hoet verweigerte jede Anfrage nach seinem Konzept und seinen Entscheidungskriterien mit dem Argument, Kunst bliebe letztendlich ein „Mysterium“. Wenn die documenta 9 ein Programm hatte, dann eines für Musik- und Sportveranstaltungen.

Damit hatte Hoet ein Leistungslimit in Sachen Fremdenverkehr, Sponsoring und Medienöffentlichkeit vorgegeben, das schwer zu überbieten sein würde. Dachte man. Doch in einem Punkt übertraf die jetzige documenta-Leiterin Catherine David ihren Vorgänger, in der Geheimniskrämerei. Sie hüllte sich während der dreijährigen Vorbereitungszeit in Schweigen. Kein Konzeptpapier, keine Interviewtermine, keine Künstlernamen. Wo sich Jan Hoet eitel ins Rampenlicht drängte, wollte David eine „langsame und geduldige Arbeit der Montage“ auf sich nehmen. Sie tingelte durch Ateliers, hielt Vorträge und schwärmte auf Podiumsdiskussionen von Kunstwerken, „die noch eine echte ästhetische, kognitive, sinnliche und sogar ethische Erfahrung ermöglichen“. Der Wortnebel wollte sich auch nicht verziehen, als ihr Kritiker vorhielten, die documenta vollends zu entpolitisieren und zur Privatsache zu machen. Ihre Weigerung, die Karten auf den Tisch zu legen, ließ vermuten, daß ihre documenta kein Appendix der Medienindustrie sein sollte. Doch hinter den Kulissen krachte es. David entließ den Geschäftsführer und die Pressesprecherin und ersetzte sie durch ihre Vertrauten. Daß die Öffentlichkeit ein Recht auf Informationen hatte, nicht nur aufgrund des rund 20 Millionen Mark hohen Etats, ließ sie kalt.

Ärger hatte es auch mit Davids Atelierbesuchen gegeben. Viele Künstler fühlten sich in ein Interpretationsschema gepreßt, beklagten die schlechte Vorbereitung und den autoritären Ton. Nach und nach sickerten dann doch Namen und Profile durch. Daß mehr Österreicher als Amerikaner eingeladen sind, daß tote Klassiker wie Marcel Duchamp oder Marcel Broodthaers ausgebuddelt werden, daß im documenta-Begleitprogramm „100 Tage – 100 Gäste“ Theoretiker small-talken werden, daß der eine oder andere Künstler selbst die Finanzierung seiner Arbeit besorgen muß, daß bereits ausgestellte Kunstwerke wie Fertigteile einkassiert wurden, sorgte dann doch für ungläubige Heiterkeit. Sieht so die Alternative zu Hoets buntem Medienspektakel aus, eine Sowohl-als-auch-entweder-oder-Ausstellung?

Eine fatale Folge ist schon absehbar. Obwohl mit dem Anspruch angetreten, daß Kunst in einer ungesicherten Realität die vielleicht letzte anthropologische Konstante ist, produziert David mit der penetranten Präsenz von Kino, Theater und Theorie einen gesamtkulturellen Mischmasch und bewirkt zugleich eine Abwertung der bildenden Kunst, die in eine Welterfahrung zwischen Dokumentation und Fiktion hineingepreßt wird. David beklagte immer wieder, daß zeitgenössische Kunst in einem Bewertungsdilemma steckt und daß neue Kriterien entwickelt werden müssen. Welche, sagte sie nicht. Sie stimmte einerseits Paul Virilios Plädoyer einer „Dislokation der Kunst“ zu, war aber zugleich gezwungen, die Ausstellungsorte in Kassel – Hauptbahnhof über Fridericianum, Ottoneum, Orangerie bis zur Brüderkirche – mit eben einer ent-orteten Kunst füllen zu müssen. Die neue, 1992 gebaute documenta-Halle entzog sie ganz der Kunst, hier wird das Diskussionsmarathon stattfinden. Paradox: David lud Theoretiker ein und Künstler aus. Ihr vollmundiges Versprechen einer Kunst im Widerstand zur geklonten Erfahrung müssen nun die Philosophen einlösen.