Katzenjammer um die abgerissene Mauer

Bis Ende Juli will der Berliner Senat über die zukünftige Mauergedenkstätte entscheiden  ■ Von Vera Gaserow

Spätestens am zweiten Abend eines jeden Berlinbesuchs kommt die unausweichliche Frage. Hauptstadtbewohner fürchten sie mittlerweile wie die Pest: „Where please“, fragen die Gäste aus Südafrika oder dem fernen Chicago, „where can we see the famous wall?“ Ratloses Achselzucken, peinliches In-die Runde-Schauen, keine Antwort nirgends. Die Spuren der verhaßten Mauer sind so gründlich getilgt, daß selbst eingefleischte Berliner sie nicht mehr finden. Um ihren einstigen Verlauf wenigstens kenntlich zu machen, mußte vor kurzem sogar Berlins Regierender Bürgermeister zu Pinsel und Farbe greifen. Mit einem roten Strich auf öffentlichem Straßenland markierte er den früheren Betonwall, den er 1990 unter den Rufen „Die Mauer muß weg“ in Verkennung der historischen Bedeutung gründlich beseitigen ließ.

Einzig bei einem kleinen Stück Mauer gewannen damals Historiker und Denkmalschützer den Wettlauf gegen rabiate „Mauerspechte“ und eilige Abrißbagger: An der Bernauer Straße im Norden Berlins blieben 220 Meter Mauerland mit Todesstreifen, Patrouillenweg, Bogenlampen und eingezäuntem Hinterland authentisch erhalten. Dort fanden während des Mauerbaus die dramatischsten Szenen statt, Menschen sprangen aus den oberen Stockwerken ihrer verbarrikadierten Häuser auf die Straße, die Bilder gingen um die ganze Welt.

Dieses in seiner Art einmalige Gelände sollte eigentlich zum Jahrestag des Mauerbaus, dem 13. August, zur Erinnerungs- und Gedenkstätte hergerichtet sein – als Mahnmal gegen ein totalitäres Regime, als Anschauungsunterricht für Schulklassen und nicht zuletzt als Ziel für Berlinbesucher auf der Suche nach „the wall“. Doch je näher der geplante Fertigstellungstermin kommt, desto weiter rückt die Gedenkstätte in die Ferne. Das Problem: Jahrelang hat man geplant und in Bonn um die nötigen Millionen gekämpft. Doch nun, wo die Gelder – 2,2 Millionen – da sind und man mit dem Bau beginnen könnte, ist man sich nicht mehr einig, wie sie aussehen soll.

Den Streit hat vor allem ein Mann entfacht – Pfarrer Johannes Hildebrandt von der evangelischen Sophiengemeinde, über deren Friedhof die Mauer verläuft. Hildebrandt ist in der Bernauer Straße aufgewachsen, die Menschen die damals aus den Fenstern sprangen, waren seine Nachbarn. Daß die DDR-Oberen damals das Kirchengelände für das gräßliche Bauwerk usurpierten, war eine Friedhofsschändung, „die erste“, wie Pfarrer Hildebrandt sie nennt. Daß dort nun ein „Disneyland für Touristen“ geschaffen werden solle, ist für ihn die zweite. Die Mauer müsse weg, argumentiert die Gemeinde, zumindest auf den Teilstücken, wo in den letzten Kriegsmonaten 1945 Hunderte von Menschen begraben wurden. „Man kann“, wettert St. Sophiens Pfarrer, „auf einem Friedhof keine Touristen auskippen.“

Dabei schien der Konflikt zwischen historischem Friedhof und denkmalgeschützten Mauerresten eigentlich längst bereinigt, denn 1993 hatten Sophiengemeinde und Berliner Senat einen Kompromiß geschlossen: Statt der geplanten Mauergedenkstätte sollte eine „Gedenkstätte für die Opfer des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung“ entstehen. Bei der Gestaltung sollten auch die dort noch vermuteten Massengräber einbezogen werden. So sah es 1994 auch die Vorgabe für einen Architektenwettbewerb vor. Ein schwieriges Unterfangen, wie sich beim Wettbewerb erweisen sollte, denn unter 250 Vorschlägen fand sich kein überzeugendes Konzept. Schließlich wurde – unter dem Vorsitz des Direktors des Deutschen Historischen Museums – ausgerechnet der Vorschlag zur Realisierung ausgelobt, der am wenigsten Mauer übrig läßt. Gerade einmal 60 von noch erhaltenen 220 Meter Mauerstreifen wollte der preisgekrönte Entwurf des Architektenpaars Kohlhoff erhalten, der Rest sollte verschwinden – zur Zufriedenheit der Sophiengemeinde.

Die setzte denn auch, Anfang April, den Kohlhoff-Entwurf auf eigene Faust um. Die Bauarbeiten für die geplante Gedenkstätte hatten noch nicht begonnen, da ließ Pfarrer Hildebrandt schon die Bagger anrücken. Über den vermuteten Massengräbern ließ er zwei 16 Meter breite Löcher in die denkmalgeschützte Mauer reißen – zum Entsetzen der Öffentlichkeit und zur Empörung der zuständigen Umweltverwaltung. Jäh aufgeschreckt durch den eigenmächtigen Abriß, hatte man in den Amtsstuben plötzlich wahrgenommen, welch Frevel es wäre, von den spärlichen Resten der Berliner Mauer nun auch noch den Großteil zu schleifen. Die Gedenkstätte, so heißt die Parole jetzt, könne unmöglich so werden, wie man sich gerade anschickte, sie zu bauen. Einige hunderttausend Mark hat man zwar schon für die Planung „verbraten“, nur weiß man jetzt, daß es leider die falsche war. Statt so wenig Mauer, wie beim preisgekrönten Entwurf vorgesehen, soll im Gegenteil nun soviel Betonwall wie möglich bleiben, verkündet der Senat.

Das sagt sich leichter, als es sich realisiert. Denn dafür braucht es nicht nur das Einverständnis der Architekten, die ihr Konzept – zwei riesige, in Chromstahl eingefaßte Spiegelflächen rahmen die Restmauer ein – in solchen Überlegungen schwerlich wiederfinden. Und es braucht neue Vertragsverhandlungen mit dem Geldgeber aus Bonn, dem Bundesinnenminister, weil der nicht so einfach für ein Bauwerk zahlen wird, das plötzlich ganz anders aussehen soll, als jenes das er genehmigt hat.

Vor allem aber ist der Streit mit der Sophiengemeinde längst nicht ausgestanden. Pfarrer Hildebrandt will weiterhin keine Mauer dulden auf 220 Meter Länge und vernimmt entgeistert, daß der Senat die von ihm weggerissenen Mauerteile wieder aufstellen will. Bis zum 31. Juli, so hat der Senat jetzt beschlossen, muß – punktum – eine einvernehmliche Lösung gefunden sein. Nur bisher weiß keiner, durch welche himmlische oder irdische Fügung die zustande kommen soll.