Lebenshilfe aus den Archiven Hollywoods

■ „West Side Story“ als Multikultiprojekt: Spaniens Schüler sollen im Unterricht mit alten Oscar-Preisträgern geistig und moralisch auf das Leben vorbereitet werden

Wohl kaum etwas beeinflußt die Alltagskultur der heutigen Jugend so sehr wie die audiovisuellen Medien, dachte sich der Bildungsbeauftragte der konservativen Madrider Regionalregierung, José Miguel Abat, und rief das „Experiment audiovisueller Unterricht“ ins Leben. Für eine dreiviertel Million Mark erstand er von der spanischen Warner Tochter Family Films das entsprechende Unterrichtsmaterial: 30 Spielfilme auf Video, ein Begleitbuch zur Geschichte des Kinos und eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Werke und der zu vermittelnden Lerninhalte. Das Kultusministerium der Zentralregierung des konservativen José Maria Aznar übernahm den kostenlosen Vertrieb an 100 ausgewählte Versuchsschulen.

Die dortigen Lehrer staunten nicht schlecht, als sie das „von einem Team aus Pädagogen, Psychologen und Kinospezialisten zusammengestellte Paket“ aufschnürten. Die Filme, die „zur Entwicklung der Fähigkeit des kritischen Denkens“ beitragen sollen, kommen allesamt aus Hollywood. Vorrangiges Auswahlkriterium: die gewonnenen Oscars und Zahl der Nominierungen.

„Ivanhoe“, „Superman“, „Die drei Musketiere“, „West Side Story“... Was auf den ersten Blick wie eine bloße Ansammlung leicht verdaulicher Unterhaltung aussieht, hat es dennoch pädagogisch in sich: John Waynes Regieversuch „El Alamo“ über den Raubkrieg der USA gegen den armen Nachbarn Mexiko, ist laut Begleitbuch „ein Film mit Aussagen, wie sie in unseren Tagen leider selten geworden sind (...) Ein Lobgesang auf die menschlichen Werte, wie sie im Kampf für eine gerechte Sache zum Ausdruck kommen können. (...) In einer Zeit, in der das Heldentum häufig ins Lächerliche gezogen wird, zeigt uns dieser Film eine Reihe von Personen, die ihr Leben für noble Ideen einsetzten.“

Ein Blick ins beigelegte Handbuch erleichtert dem Lehrer die Unterrichtsvorbereitung: „Der Krieg ist schlecht. Und fertig“, lautet die Schlußfolgerung einer Tochter in einem abgedruckten fiktiven Dialog. Eine Aussage, die ein verantwortungsbewußter Erziehungsberechtigter so auf gar keinen Fall stehenlassen kann: „Aber eines wird immer Zeichen der Würde sein: die Bereitschaft, das Leben für das Gute zu opfern“, erwidert der Vater. Was 1960 die US-amerikanische Jugend zwischen Korea und Berliner Mauer auf die patriotischen Werte im Kalten Krieg einstimmen sollte, wie soll das heute schlecht sein, wo die spanische Jugend zu Tausenden Totalverweigerung und Gefängnis dem Dienst in den Kasernen vorzieht.

Nach dem Vaterland kommt selbstverständlich die Familie: Die Liebschaften von D'Artagnan mit der edelmütigen Constanze und der attraktiven, aber hinterlistigen Mylady in „Die drei Musketiere“ von Michael Anderson vermitteln die Werte der „guten und der schlechten Liebe“. So über die zwei Archetypen von Frau, die Heilige und die Hure, aufgeklärt, können sich Schüler und Lehrer beruhigt dem Berufsleben und damit Zielstrebigkeit und Ehrgeiz zuwenden.

Noch ein bißchen Wissen über aktuelle Sozialproblematik, erlernt mit „West Side Story“ von Robert Wise — „Die Straßenbanden sind üblicherweise das Ergebnis von rassischen, ethnischen und religiösen Unterschieden“; ein Einblick in die Geschichte unserer Zivilisation und Religion dank „Quo Vadis“, das Mittelalter mit Hilfe von „Ivenhoe“, der Zweite Weltkrieg mittels „Casablanca“, und der junge Mensch ist rundum gebildet.

Nur die Lehrer wollen nicht so recht mitspielen. Die Gewerkschaft CCOO fordert den Rücktritt Abats. Nicht nur, daß er Werte verkauft, die in den USA der Political Correctness längst auf dem Müll gelandet sind, „als Spanier und Europäer vermisse ich unser Kino. Wo ist Buñuel, der italienische Realismus, die deutschen Filmemacher der Nach-68-Generation?“ fragt CCOO-Sprecher Paco Naranjo. Der so kritisierte Abat versteht die Welt nicht mehr: „Wenn wir aufhören, diese Werte an die Jugend zu vermitteln, was sollen wir ihnen dann beibringen?“ Reiner Wandler