■ Rechtsgefühl und Recht – eine merkwürdige und quälend spannungsgeladene Angelegenheit, die Revolutionäre beflügeln oder Rassisten zur Lynchjustiz aufstacheln kann
: Zwischen Moral und Norm

„An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des 16. Jahrhunderts, ein Roßhändler, (...) Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr, für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können (...), wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“

Der entsetzlich rechtschaffene Mann, dessen Schicksal Heinrich von Kleist in seiner Novelle erzählt, heißt Michael Kohlhaas und gilt bis heute als Prototyp des verstockten Rechthabers, des starrsinnigen Querulanten, des Verbrechers aus gekränktem Rechtsgefühl. Weil er Schaden an zwei Rappen erleidet und auf obrigkeitliche Abhilfe bald keine Hoffnung mehr setzt, sammelt er einen bewaffneten Haufen und sucht sein Recht auf eigene Faust zu erlangen. Die Raserei endet auf dem Schafott.

Eine Schauergeschichte, die nicht gerade dazu einlädt, den Regungen des Rechtsgefühls zu folgen. Von maßvoll abwägenden, durchaus vernünftigen Leuten wird denn auch der sprichwörtliche Kohlhaas herbeizitiert, wenn sie vor den selbstzerstörerischen Folgen warnen wollen, die am Ende jeden treffen müßten, der sich gegen die öffentliche Ordnung auflehnt. Dabei ist das Rechtsgefühl eine durchaus zwiespältige Sache. Daß es hierzulande eher Kleinbürger zur Weißglut treibt, als daß es Freiheitsliebe und Humanität hervorbrächte, hängt vielleicht mit einigen Besonderheiten der deutschen Tradition zusammen. Doch zunächst. Woher rührt die zuweilen quälende Spannung zwischen Rechtsgefühl und Recht?

Das Auseinanderfallen von kollektivem Gesetz und individueller Moral gründet in der Herausbildung des modernen Rechtsstaats und seiner Bürokratie, die in alle Lebensbereiche der Gesellschaft eingedrungen ist. Der Rechtsstaat verfügt über speziell geschultes Personal, das „ohne Ansehen der Person“ eine in diesem Sinne unpersönliche, sachliche Herrschaft des Gesetzes vollzieht. Ein Fortschritt, zweifellos. Denn das staatliche Gewaltmonopol beendete den Krieg aller gegen alle. Freilich macht dieser Fortschritt die Dinge auch komplizierter, wie ein Blick in die frühe Rechtsgeschichte zeigt. Stammesgesellschaften zum Beispiel kannten überhaupt kein normiertes, von vornherein festgelegtes Recht, sondern ein im Konfliktfall zu bewährendes „Recht“, das von Priestern oder charismatischen Häuptlingen geschaut wurde. Es erwuchs aus der Lebenserfahrung in kleinen, überschaubaren Gemeinschaften. Tradition und Religion, Recht und Moral bildeten eine Einheit.

Im modernen Rechtsstaat dagegen tritt die Herrschaft des Gesetzes dem einzelnen als staatlich zentralisierte Zwangsgewalt entgegen. Diese ist zwar insoweit legitim, als in der Demokratie, idealtypisch gesehen, jeder nach Normen leben muß, die er selbst mitbestimmen kann. Doch es bleibt eine nicht aufzuhebende Spannung zwischen individueller und gesetzlicher Freiheit. Nicht nur, weil Gesetze von wechselnden Mehrheiten des Parlaments verabschiedet werden, man sich also jederzeit auf seiten der überstimmten Minderheit wiederfinden kann. Sondern auch, weil individuelle Selbstbestimmung, das heißt der Wildwuchs der Freiheit, sich durch gesellschaftliche Normen stets eingeengt sieht. Man lernt wohl die Sicherheit maßvoller Freiheit schätzen und arrangiert sich. Doch der latente Konflikt zwischen individueller und gesetzlicher Freiheit kann jederzeit aufbrechen: Die Bruchstellen markiert das Rechtsgefühl, jene spontane Regung, die uns die feste Überzeugung einflößt, etwas gehe nicht mit rechten Dingen zu. Keiner blockiert Atomtransporte, besetzt Häuser oder versteckt Flüchtlinge ohne eine Intuition dessen, was „eigentlich“ Rechtens sein müßte.

Und der ordentliche Rechtsweg, der jedem offensteht bis hin zur Verfassungsbeschwerde? Das Rechtsgefühl ist ungeduldig, es verlangt sein sofortiges Recht. Zumal die Hoffnung auf gerichtlichen Rechtsschutz oft enttäuscht wird. Der Richter entscheidet nach dem Maßstab des jeweiligen Gesetzes – das ist seine Pflicht. Er hat dabei einen großen Spielraum, denn unter der Kunstfertigkeit juristischer Interpretation erweist sich das eherne Gesetz zuweilen als ein sehr flexibler Maßstab. Doch Anfang und Ende aller Interpretation ist und bleibt das Gesetz. Wer aber eicht dieses Maß? Das wurde zu allen Zeiten gefragt und ist bis heute Anlaß, bestimmten Gesetzen zu widerstehen oder gegen die Regierung zu revoltieren. Der Philosoph Ernst Bloch hat den verschiedenen Strömungen des aufsässig-renitenten Rechtsgefühls eine ganze Studie gewidmet. „Naturrecht und menschliche Würde“, geschrieben 1961.

Das Rechtsgefühl inspiriert also durchaus revolutionären Eigensinn und aufrechten Gang – „autonomes“ Rechtsbewußtsein, wenn man so will. Es kann allerdings auch ganz gewaltig trügen. Weil es keineswegs ein Privileg aufgeklärter Geister ist, können in seinem Namen Vorurteile ins Kraut schießen und dumpfe Ressentiments ausbrechen. Nehmen wir nur den militanten Knechtssinn jener, die Flüchtlingsunterkünfte anzünden, weil sie das Gefühl haben, die Regierung tue „zuviel für Scheinasylanten und zuwenig für uns Deutsche“. Nicht zu vergessen das Rechtsgefühl der Nationalsozialisten. Sie brachten es auf die schändliche Gesetzesforderung vom „gesunden Volksempfinden“, eine Allzweckwaffe für schäumende Strafverfolger.

Die Sache mit dem Rechtsgefühl ist also eine zwiespältige, höchst prekäre Angelegenheit: Wenn Rechtsgefühl und wirkliche Rechtslage zusammenstoßen, kann sich mal das Gefühl, mal das Gesetz blamieren, je nachdem. Wäre es da im Zweifel nicht besser, den Imperativen der öffentlichen Ordnung zu folgen? Die, die vor Anarchie und Chaos warnen, haben gut reden. Ihr Gehorsam gründet weniger auf Einsicht denn auf Abstumpfung und Gewohnheit. Sie wissen sich unter der Herrschaft jedes Gesetzes einzurichten.

Um auf den Roßhändler von der Havel zurückzukommen: Wer seinem Rechtsgefühl folgt, muß darüber nicht gleich zum Kohlhaas werden. Wer nur einen klaren Kopf behält und seinen Leidenschaften nicht die Zügel schießen läßt, darf ruhig mal eine Regelverletzung riskieren.

Horst Meier