Mord als Symbol?

■ Eine bedrohliche Verbindung von Herzensgüte mit Durchblick. "Tötungsdelinquenten", ein Buch über Mörder

Vor vielen Jahren stellte der Psychoanalytiker K.R. Eissler deutschen Psychiatern und Gerichten die provozierende Frage: Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch störungsfrei verarbeiten, um psychisch noch für normal zu gelten? Das geschah im Zusammenhang mit Entschädigungsansprüchen von Leuten, die ihre nächsten Angehörigen im KZ verloren hatten und darüber erkrankt waren. Es war also ein orthodoxer Freudianer, der es nicht für sinnvoll hielt, unter allen Umständen pathogene Kindheitserlebnisse für erwachsene Neurosen und Depressionen heranzuziehen. Es gibt Realereignisse – und der Holocaust zählt dazu –, die jeden Menschen auf die Bahn der Erkrankung und des Leidens bringen mußten. Wer unter keinen Umständen zusammenbricht, irre wird und hilfsbedürftig, der war wirklich nie normal.

Heute, in ruhigeren Zeiten, kann man Eisslers Frage, wohlverstanden, in die neu entbrannte Debatte um die Resozialisation von Gewalttätern eintragen. Einige Morde, verübt von einschlägig vorbestraften Tätern, Ausbrüche anderer aus Kliniken und sozialtherapeutischen Einrichtungen, haben die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Alle Fachleute sind unter Druck geraten, die im Namen eines aufgeklärten Strafvollzugs mit einem ganzen Arsenal von Methoden die Zeit im Gefängnis für die Zeit danach nutzen wollen. Auf Psychologie und Therapie werden, gerade auch bei Gewalttätern, die größten Hoffnungen gesetzt. Wer hier Zweifel anmeldet, gar Kosten- Nutzen-Rechnungen einfordert, macht sich als Barbar verdächtig, der in der Strafe den Anspruch der anständig Gebliebenen auf Rache verwirklicht sieht.

Nach der Lektüre von Heide Möllers Buch über „Menschen, die getötet haben“ scheint mir allerdings der Gegensatz des therapeutischen Humanismus zum kruden Strafdenken gar nicht so bedeutend, wie die Debatte suggeriert. Beide Fraktionen wollen eine Ordnung, in der Verbrechen, schon gar an Leib und Leben, nicht vorgesehen sind, so wiederherstellen, als wäre nichts geschehen. Die einen annullieren den Tod des Opfers, wenngleich immer noch zähneknirschend, durch das „Lebenslänglich“ des Täters. Die anderen schaffen dasselbe Kunststück – mit allerdings höherem intellektuellem Aufwand –, indem sie einen Roman erfinden, in dem ein Mord ebenso logisch abgeleitet wie für überflüssig erklärt wird. Möller ist Psychologin und hat lange als solche im Gefängnis gearbeitet – eine gerade für Frauen, wie sie selbst sagt, überaus befriedigende Tätigkeit, von der sie sich tränenreich verabschiedet hat. An sie also, stellvertretend für den therapeutischen Humanismus, die aktualisierte Eisslersche Frage: Wie viele Menschen muß jemand ermordet haben, um als schuldbeladener Täter überhaupt ernst genommen und nicht als therapiebedürftiger Mensch mit katastrophaler Beziehungsvergangenheit normalisiert und im wissenschaftlichen Feinsinn verwurstet zu werden?

Sühne in der Eigenwelt des Gefängnisses

Was mich anweht aus diesen „tiefenhermeneutischen Analysen von Tötungsdelinquenten“ ist ein gut gemeinter, letztlich aber kontraproduktiver Größenwahn, der den Strafvollzug nicht verbessern, nur immer strittiger und für Täter und potentielle, zukünftige Opfer derselben nur noch gefährlicher und sinnloser gestalten kann. Was gebraucht wird, sind Verfahren, die Mördern und Mörderinnen, auch in der Eigenwelt des Gefängnisses, den Gedanken an Schuld und Sühne nicht verwehren, wie es Möllers therapeutischer Humanismus tut; und andererseits sollte eine wissenschaftlich so gut assortierte Gesellschaft allmählich instand gesetzt werden, hinsichtlich von Gewalttätern prognostische Fähigkeiten zu entwickeln, die dem Sicherheitsbedürfnis ebenso Rechnung tragen wie dem Anspruch eines Menschen, erkannt und nicht sinnlos symbolischem Ordnungsdenken, kostenspielig außerdem, geopfert zu werden.

Anders gesagt: Es gibt in Möllers Buch „Tötungsdelinquenten“, die strenggenommen keine sind; andere, die man getrost entlassen könnte; und wieder andere, die keinesfalls in eigener Verantwortung leben könnten – aber alle diese wichtigen Unterscheidungen gehen im Sumpf der Tiefenhermeneutik unter, an der die Mörder – wenige Stunden einvernommen – sehr viel weniger Anteil haben als ein ausgebreiteter Diskurs hochherrschaftlicher Diskutanten mit wissenschaftlichem Ausweis.

Das ältere Buch eines englischen Journalisten zum selben Thema, nämlich Tony Parkers „Leben um Leben – zwölf Gespräche mit Mördern“, legt den Gedanken nahe, daß wir hierzulande an der Idee kranken, Autoritarismus und Humanismus versöhnen zu wollen. Die Pädagogik, deren Fortsetzung das Therapiedenken schließlich darstellt, wurde in Deutschland jedenfalls erfunden.

Eine vergleichende Lektüre von Parker und Möller spricht für den englischen Pragmatismus. Wer in England den Tod eines Menschen verursacht hat, bekommt lebenslänglich. Das kann aber auch heißen, nach wenigen Jahren im Gefängnis, „Bewährung auf lebenslänglich“. Die Geschichten, die Parker erzählt, lesen sich ganz anders als die bei Möller. Das desolate Milieu, der schaurige Familienhintergrund, sie sind oft vergleichbar. Unvergleichbar ist die Stimme, die der Täter oder die Täterin bekommen, ebenso unvergleichbar die Chancen, unter solchen Umständen denn doch ins Leben zurückzufinden, obwohl sie Schuld auf sich geladen haben, die größte, die es gibt: Mord.

Von dieser Realität, die ihr Leben auf immer geändert hat, sprechen auch alle, ob spontan oder nach Aufforderung durch Parker, spielt dabei gar keine Rolle; denn natürlich sind seine Geschichten nach literarischen, journalistischen Gesichtspunkten ebenso frisiert wie die von Möller auf der andern Seite nach wissenschaftlichen „tiefenhermeneutischen“. Der wichtige Unterschied ist aber der, daß Parker das weiß, während die methodologischen Absicherungen im andern Fall der Wahrheitsfindung dienen sollen. Was dabei unterm Strich herauskommt, hat aber mehr mit Charaktergemälden einer schaurig interessanten Spezies Mensch zu tun („Tötungsdelinquenten“), an denen sich alle, denen das Leben den Mord erspart hat, ohne es auch nur zu ahnen, voyeuristisch delektieren können. Auch die avancierteste und menschenfreundlichste Psychologie steht hier in der Tradition der volkstümlichen Verbrechersagen, die von der Überschreitung des Mörders fasziniert sind und das Rätsel in seiner Person vermuten.

Folgt man Parker, kommt das englische Strafsystem mit weniger Psychologie aus als das deutsche. Es bewertet Taten und nicht den Täter. Mord ist Mord und kann nicht im Rahmen einer defizitären Sozialisation, eines ungeordneten Affekthaushaltes usw. als symbolische Handlung begriffen werden. Im Unterschied zu Möllers tiefenhermeneutisch erschlossenen Personen bleiben Parkers Täter im Kopf haften. Wer im günstigsten Fall die Chance hat, bereits nach sieben Jahren, zwar nicht in die Freiheit, sondern in die streng beaufsichtigte lebenslängliche Bewährung entlassen zu werden, hat sicher mehr Grund, ein neues, zumindest gesetzestreues Leben in Angriff zu nehmen als der autoritär-humanistisch einvernahmte Strafgefangene. Manche schaffen es nie, andere brauchen dreißig Jahre, ehe sie draußen leben können. Die Fiktion, der unter Parkers Anleitung auch seine zwölf Mörder folgen, daß nämlich jeder unter allen Umständen für sein Leben und seine Taten allein verantwortlich ist, ist natürlich eine Fiktion wie andere auch. Als Gegengift zur Tiefenhermeneutik, die wundersame Herzensgüte mit gnadenlosem Durchblick so bedrohlich verbindet, leistet sie jedenfalls Gutes. Katharina Rutschky

Heide Möller: „Menschen, die getötet haben. Tiefenhermeneutische Analysen von Tötungsdelinquenten“. Westdeutscher Verlag Opladen 1996, 305 S. 56 Mark