"Literatur ist etwas Triebhaftes"

■ Gespräch mit dem Schriftsteller Wolfgang Hilbig über DDR-Bürger und die Wiedervereinigung, Politikverdrossenheit und Medien, über Botho Strauß und das Eigentliche, die Wirksamkeit von Literatur und die Hi

taz: Zur Verleihung des Lessing-Preises hielten Sie im Kamenzer Rathaus eine vieldiskutierte Rede, die am Prozeß der deutschen Einheit wenig Gutes ließ. Sie polemisierten gegen die Macht der Banken und die Konsumherrlichkeit und verglichen die Wirkung eines Supermarktes mit der einer Neutronenbombe. Ist denn die Wiedervereinigung ganz und gar gescheitert?

Wolfgang Hilbig: Das mit der Neutronenbombe sollte ein Witz sein. In den hinteren Reihen wurde auch gelacht, aber sonst haben es alle schrecklich ernst genommen. Ein Wort wie „scheitern“ würde ich gar nicht wagen, in den Mund zu nehmen. Mein Überblick reicht nicht so weit, als daß ich das beurteilen könnte. Es hat aber den Anschein, als ob das, was sich vollzog, keine Wiedervereinigung ist, sondern eine Ausbreitung der Macht des Finanzkapitals, die alles andere chancenlos macht.

Sie sprachen auch – und das wurde Ihnen besonders übel genommen – von „Unzucht mit Abhängigen“. Wer ist da abhängig wovon?

Ein Großteil der ehemaligen DDR-Bürger war abhängig von Bildern, die sie sich vom Westen gemacht haben. Von Fernsehbildern. Die ganze sogenannte Identität der DDR-Bürger bestand hauptsächlich im Blick auf den Westen. Er war das Lebensziel.

Sie selbst übersiedelten 1985 in die Bundesrepublik und haben 1989 die Wende ausdrücklich begrüßt. Welche Hoffnungen hatten Sie damals, die Sie mittlerweile verloren haben?

Was ich begrüßt habe, und was mir wie ein Wunder erschien, war die plötzliche Befreiung des eigenen Willens der DDR-Bürger, das Erwachen des Widerstands. Und das erlosch ja innerhalb kürzester Zeit wieder.

In Ihrer Rede klingt aber auch die Enttäuschung über den neuen Staat Bundesrepublik heraus. Die Bonner Parteien bezeichnen Sie als „Splittergruppen“, und es sei ganz egal, welche man wählt. Politiker pflegen das „Politikverdrossenheit“ zu nennen. Sind Sie politikverdrossen?

Ich war noch nie anders als politikverdrossen. Das hängt mit meiner Herkunft zusammen. Ich komme praktisch aus der Unterklasse. Meine Eltern waren Proletarier oder vielleicht noch eine Stufe darunter angesiedelt, und sie waren eigentlich immer der Meinung – und das habe ich in frühester Kindheit schon gehört, diesen Satz –: Wir sind doch sowieso die Dummen. Ich habe Verdrossenheit an der Politik mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. Da muß nichts mehr passieren, was mich besonders verdrießt.

Was ich aber in der Rede eigentlich gemeint habe, ist, daß ich nicht daran glaube, daß aufgrund der Ausweitung des Siegersystems der Pluralismus gewachsen ist. Es gibt heute überhaupt keine Veranlassung mehr, sich pluralistisch, alternativ oder demokratisch zu verhalten. Der Vorschein von Demokratie, den die Bundesrepublik immer an den Tag legen mußte, war nach Osten gerichtet. Das ist heute nicht mehr nötig.

Aber es gibt doch zumindest einen Pluralismus der Lebensstile...

Sicher. Aber der ist der Konsumgesellschaft zuzurechnen. Lebensstile werden andauernd konsumierbar gemacht und immer weiterentwickelt. Das ist aber nichts Eigenes, sondern etwas künstlich Erzeugtes. Ich zweifle langsam an der Pluralität und Offenheit der Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, die in immer schnellerem Tempo verschleißt. Wer da noch an etwas anderes denkt als an den eigenen Profit, wer womöglich an die Zukunft denkt oder Zweifel anmeldet an Begriffen wie „mobile Gesellschaft“, wird sofort mundtot gemacht.

Nach der Wende sollte ja sofort eine Automobilgesellschaft hergestellt werden. Das ist kompletter Irrsinn. Was wäre, wenn dasselbe in China geschähe? Das sind vielleicht Horrorvorstellungen, aber als Schriftsteller beschäftigt man sich damit.

Versteht man denn als Schriftsteller etwas davon?

Das ist bestimmt nicht immer wissenschaftlich fundiert, ist vielleicht eher eine gefühlsmäßige Kritik, die ungetrübt ist von dem Problem der Lösung. Aber die Aufgabe des Schriftstellers ist nicht, Vorschläge zu machen, wie Brecht sagte. Das konnte auch Brecht nicht – höchstens ziemlich höhnische Vorschläge wie den, daß die Regierung sich ein neues Volk wählen solle.

Damit ist es vorbei. Man kann mit Literatur nichts unmittelbar bewirken. Das einzige, was ich beim Schreiben will, ist, mich auszudrücken. Das ist mehr, als man denkt. Literatur ist eher etwas Triebhaftes als etwas Intellektuelles. Etwas Libidinöses. Jedenfalls keine Überzeugungsarbeit.

Es ist vielleicht traurig, aber die Rolle des Intellektuellen als Warner und Mahner ist überholt, weil man sich lächerlich macht gegen die Übermacht der elektronischen Medien. Man kann als Literat nur noch mit einer gewissen Dauerhaftigkeit wirken.

Ostdeutsche erlebten eine doppelte Enttäuschung: zuerst das Scheitern des Sozialismus, jetzt die Desillusionierung ihrer Erwartungen. Dieses doppelte Scheitern führt vielleicht dazu, daß man sich von Politik und Gesellschaftlichkeit nichts mehr erhofft, sondern auf sich selbst zurückgeworfen lebt. Wie kommt man aus dieser resignativen Haltung heraus?

Ich glaube, daß die DDR-Leute doch auf dem Grund ihres Wesens selbständig denkende Leute gewesen sind. In Abwehr von parteipolitischen Floskeln haben sie sich immer eigene Gedanken über ihre Lebensumstände machen müssen. Diese Ansätze sind verloren gegangen, vielleicht weil das grundlegende Mißtrauen gegen die Mächtigen verloren ging, vielleicht auch, weil die Menschen heute viel mehr gefordert sind mitzumachen. Sie sind jetzt angekommen im Westen, den sie immer wollten. Jetzt geht es darum zu zeigen, was sie eigentlich können, daß sie funktionstüchtig sind, was man immer angezweifelt hat.

Einer Ihrer zentralen Begriffe, der in Ihrer Literatur immer wieder auftaucht, ist der der „Entwirklichung“. Was ist damit gemeint?

Das war DDR-spezifisch. Es ging um die Unfähigkeit, mit allen öffentlichen Sprachen umzugehen, keine eigene zu haben und dauernd zu erkennen, daß die herrschenden Sprachen mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Das hat das Gefühl der Entwirklichung hervorgebracht. Heute würde ich den Begriff auf anderen Gebieten einsetzen. Sicher hätte er immer noch mit Sprache zu tun, aber nicht mit Ideologie-Sprache – die gibt es eigentlich nicht mehr –, sondern mit einer Mediensprache, die etwas Umfassenderes meint. Die Medien besetzen die Stelle der Ideologie auf eine ziemlich perfide Art.

Sie schreiben nichts vor, aber wenn man sich durch die Programme zappt, kommt ein Einheitsbrei heraus, wie moderne Menschen auszusehen haben, wie sie zu reden haben, wie sie glücklich zu sein haben oder glücklich zu sein glauben. Das würde ich nicht mehr Ideologie nennen, sondern Simulation. Wirklichkeit ist da fast schon ausgegrenzt, vielleicht etwas für Kinder bis 14, 15.

Was bedeutet das für Literatur?

Literatur kann dagegen nicht an. Ich würde davor warnen, auch nur den Versuch zu machen, etwas dagegenzusetzen. Literatur muß im Abseits bleiben und dort vielleicht infiltrierend Gedanken in die Welt setzen. Wenn die Literatur wüßte, in welches Verhältnis zur Wirklichkeit man in einer Medienwelt treten kann, dann wäre sie gerettet. Aber im Moment sieht es nicht so aus.

Frank Schirrmacher verglich kürzlich in der „FAZ“ Ihre zivilisationskritische Haltung mit der von Botho Strauß. Was denken Sie, wenn Sie sich in diese Nachbarschaft gestellt sehen?

Ich bin nicht darüber erschrocken, war im ersten Moment sogar erfreut. Ich schätze Botho Strauß als Literat sehr. Aber ich kann diese Nachbarschaft nicht recht erkennen. Ich sehe gar nicht so viel Zivilisationskritik bei Botho Strauß.

Ich lese gerade sein neues Buch „Die Fehler des Kopisten“ und erkenne darin eher eine Art von Abwehr, auch von Abwehr der Verpflichtung zu Kritik. Bei mir ist so eine politische Rede bloß eine Nebensache. Das schreibt man, weil einem nichts Besseres einfällt. Und plötzlich wird das zur Hauptsache aufgebauscht. Das mißfällt mir. Von Botho Strauß müßte ich mir wahrscheinlich den Vorwurf gefallen lassen, ich hätte meine Verpflichtung zur Kritik erfüllt.

Können Sie genauer beschreiben, was Sie von Strauß' neuem Buch halten?

Es ist eine Gedankensammlung. Vieles davon verstehe ich nicht, aber das ist wahrscheinlich nicht für jeden geschrieben. Viele Gedanken scheinen mir sehr interessant und erhellend. Es gibt zum Beispiel einen Absatz über einen jungen Schauspieler, der mit einer älteren Frau redet. Da geht es um die Nachahmung von Wirklichkeit, und das ist immer auch ein Problem für mich: Was macht die Literatur, versucht sie Wirklichkeit nachzuahmen? Botho Strauß sagt dazu nein. Sie ahmt nicht Wirklichkeit nach, sondern das Schöpferische. Das leuchtet mir ein. Wenn ihr das gelingt, hat sie etwas geleistet. Das können keine anderen Medien. Dann ist es auch egal, wenn Literatur im Abseits steht.

Treffen Sie sich darin mit Botho Strauß, in dieser Abkehr?

Ich weiß nicht, ob es eine Abkehr ist. Es sieht so aus. Aber vielleicht ist dort in der Uckermark das Eigentliche für Botho Strauß. Man will ja, daß er endlich das schreibt, was er für das Wichtigste hält. Er soll ja keine Nebensachen schreiben. Das wäre dann keine Abkehr, sondern eine Zuwendung zu dem, was ihm gemäß ist.

Frank Schirrmacher zeigte sich erstaunt darüber, daß Gesellschaftskritik von rechts und links zu ähnlichen Ergebnissen kommt...

Ach wissen Sie, ich möchte mit diesen Begriffen am liebsten gar nicht mehr umgehen. Ich verstehe sie nicht. Mir kommt das Gerede von manchen Linken heute viel konservativer vor.

Immerhin würde Botho Strauß wahrscheinlich nicht, wie Sie vorhin, einen Begriff wie „Finanzkapital“ verwenden.

Das stimmt. Das ist links. Aber so habe ich es eben gelernt. Ich bin in der DDR in die Schule gegangen.

Interview: Jörg Magenau