■ Daumenkino
: Verführerischer Mond

Man hat zunächst den Eindruck, der Vorführer habe versehentlich die Filmrollen vertauscht, dabei ein paar entscheidende Szenen verknotet und dann heimlich weggeschmissen. Mag sein, daß es in Chen Kaiges „Verführerischer Mond“ irgendwo hinter den Bildern um die Agonie einer Epoche geht. Daß zwischen Opiumschwaden, Kopulations-Choreographien und einer beeindruckenden Kollektion von Ohrringen tatsächlich Tradition und Moderne, das alte und das neue China kollidieren.

Ob man überhaupt zum politisch-weltanschaulichen Dechiffrieren durchdringt, ist fraglich angesichts der zunächst zu entwirrenden, inzestuös verbandelten Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Protagonisten. „Kein Mann im Hause Pang“ hallt es irgendwann Ende der zwanziger Jahre durch die ehrwürdigen Hallen des Familienpalastes.

Nach dem Tod des alten Meisters Pang wird seine Tochter Pang Ruyi (Gong Li) Familienoberhaupt, bekommt aber als schwache Frau einen Pang-Vetter zugeordnet. Eigentlich wäre ihr im Opiumdunst verblödeter Bruder Zhongliang (Leslie Cheung), der verführerische Gigolo und große Ohrringlutscher vor dem Herrn, Nachfolger des Vaters geworden. Zu Weichzeichnern, Überblendungen, Zupfen, Pling und aufwühlender Musik in Schiffen und Treibhäusern finden alle kreuz und quer zusammen und übereinander, bis das Opium den mörderischen Endpunkt setzt.

Von Lenin, dem Zweiten Weltkrieg und Sun Yat Sen ist auch die Rede, und am Schluß, wenn sich eine verratene Geliebte in der „Gasse des Himmlischen Friedens“ aus dem Fenster stürzt, hat sich die Moderne unwiderruflich eingefunden.

In seinem Epos „Lebewohl meine Konkubine“ hatte Chen Kaige 1993 die Geschichte Chinas über die Pekingoper erzählt, mit Homosexualität und politischem Verrat Tabuthemen berührt. Der verwirrende Eklektizismus von „Verführerischer Mond“ ist so unerwartet wie unverständlich.

Kenner der asiatischen Szene, wie der englische Filmkritiker Tony Rayns, haben den wohl nicht ganz unberechtigten Eindruck, es könne sich um eine zensurbedingte künstlerische Erschlaffung handeln, eine Erzählmetapher, die sich zum harmlos-geschmäcklerischen Kunstgebilde verselbständigt hat. Mag sein, mag auch sein, daß schlicht und ergreifend die filmische Parallelschaltung von historischer und heutiger Umbruchzeit einfach in großem Stil mißlungen ist – Opium als tödliches Symbol der alten Zeit bringt nur zusätzlichen Nebel in das obskure Werk. Katja Nicodemus

„Temptress Moon“, Regie: Chen Kaige. Buch: Shu Kei. Mit: Leslie Cheung, Gong Li, Kevin Lin, Yuan Lingen. China, 1996