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: Auch ein Depp kann genial sein

■ Raus aus der Psychiatrie, rein ins Altersheim: Filme von Cassavetes und Kassovitz

Der traurigste Film auf diesem Festival ist Nick Cassavetes „She's so lovely“.

Das Drehbuch hat sein Vater geschrieben, und bei jeder Zeile sieht man einen Film von Cassavetes père vor sich. „She's so lovely“ ist die Geschichte einer amour fou. Eddie (Sean Penn) und Maureen (Penn-Gattin Robin Wright) sind verrückt nach einander. Dann kommt Eddie in eine psychiatrische Anstalt. Als er zehn Jahre später entlassen wird, ist Maureen verheiratet und hat drei Kinder. Am Ende zieht sie mit Eddie ab, Ehemann Joey (John Travolta) und die drei Kinder können nur zusehen. Penn und Wright spielen so verdammt brillant, als wollten sie den Best- Cassavetes-Actor-Preis gewinnen. Aber nur John Travolta hat mich gerührt: Er ist der einzige, dem man anmerkt, daß er Angst vor dieser Rolle hatte.

Obwohl er nicht sonderlich intelligent ist, ist Mathieu Kassovitz ein wunderbarer Filmemacher. Daß sein Wettbewerbsfilm „Assassin(s)“ bei der Pressevorführung kollektiv ausgebuht wurde, war sehr ungerecht. Ein Profikiller (Michel Serrault) heuert einen jungen Mann an, der sein Nachfolger werden soll. Zumindest behauptet er das. Monsieur Wagner bringt Max (Mathieu Kassovitz) das Handwerk bei. Max wiederum gibt sein neuerworbenes Wissen weiter an den 15jährigen Mehdi (Mehdi Benoufa).

Der Film beginnt mit einem ekelhaften Mord an einem alten Mann, spult dann zurück, wie alles anfing, wiederholt die Anfangsszene und läuft chronologisch weiter. Hat Monsieur Wagner noch ethische Vorstellungen von seinem Beruf, so wird Max zum Killer, weil er nicht so recht weiß, was sonst mit sich anfangen. Er macht eine Lehre als Schweißer und lebt bei seiner Mutter, was ihn beides gleichermaßen langweilt. Spaß macht ihm das Töten allerdings nicht. Diffuse Skrupel ethischer Art behindern ihn. Mehdi hat weder Ethik noch Moral. Er tötet, als wäre er in einem Fernsehfilm.

Und damit sind wir beim Thema. War in Kassovitz' Erstlingsfilm „La Haine“ die Polizei an allem schuld, so ist es in „Assassin(s)“ das Fernsehen. Pädagogik mit dem Holzhammer: Wenn Mehdi eine schlafende Frau erschießt, guckt er anschließend mit betont leerem Gesicht fern – Szenen von Gewalt, Pornographie und Sport.

Dann steht er auf und feuert noch ein paarmal auf die Frau. Aber auch ein Depp kann ein Genie sein. Unter den platten Behauptungen zeigt Kassovitz die ungewöhnliche Geschichte eines Killers, der sich einen Mörder sucht. Monsieur Wagner ist ein alter Mann. Er sieht aus, als würde er Damen die Tür aufhalten. Doch in Wahrheit ist er von ekelerregender Brutalität. Wagner ist der Teufel.

Ein Mann, den niemals jemand geliebt hat. Wahrscheinlich riecht er nach Schwefel. Das zivilisierte Äußere ist eine obszöne Maskerade. Wagner ist heroinabhängig und kann seinen Job nicht mehr ausführen. Deshalb sucht er einen Mörder.

Michel Serrault buhlt nicht um Mitleid für Wagner. Er macht die Lebenslügen eines gemeinen alten Mannes nicht weniger abstoßend, als sie sind – und preßt einem damit am Ende doch Anteilnahme ab. Am Ende geschieht Wagner das schlimmste: Endstation Altersheim. Anja Seeliger