Sexualaufklärung ohne nackte Fakten

Muslimische Mädchen können nicht zur Teilnahme am Sexualkundeunterricht gezwungen werden. Verwaltungsgericht entschied Klage der Eltern einer türkischen Schülerin  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Muslimische Mädchen können nicht zur Teilnahme am Sexualkundeunterricht gezwungen werden, wenn dabei auch Abbildungen von unbekleideten Menschen gezeigt werden und das gegen ihre religiösen Überzeugungen verstößt. Das hat jetzt das Berliner Verwaltungsgericht in einem Rechtsstreit zwischen den Eltern einer türkischen Drittklässlerin und der Schulverwaltung entschieden. Die Eltern hätten glaubhaft gemacht, daß die Teilnahme ihrer Tochter am Sexualunterricht „ihre verfassungsrechtlich geschützten Positionen verletze“.

Daß ihr Kind Bilder von nackten Personen betrachte, bringe sie „mit großer Wahrscheinlichkeit“ in einen „ernsthaften Gewissenskonflikt“, da der moslemische Glaube es verbiete, Filme oder Bilder mit unbekleideten Menschen zu zeigen. Eine vollständige Befreiung ihrer Tochter vom Sexualunterricht billigten die Richter den türkischen Eltern allerdings nicht zu. Nun dürfen Berliner Pädagogen jedoch darüber grübeln, wie sie Aufklärungsunterricht erteilen können, ohne dabei nackte Fakten zu zeigen.

Die Eltern des türkischen Mädchens, das aus religiösen Gründen auch nicht am Schulschwimmen teilnehmen darf, hatten sich gegen den Sexualkundeunterricht gewandt, der nach allgemeinverbindlichen Rahmenplänen der Kultusministerkonferenz Teil des Biologieunterrichts ist. Vor Beginn dieser Unterrichtssequenz finden in der Regel Elternabende statt, auf denen über Unterrichtsinhalte und -materialien diskutiert wird. Die Eltern der betroffenen Berliner Schülerin hatten an diesen Versammlungen jedoch nicht teilgenommen. Sie reagierten empört, als ihre Tochter ihnen erzählte, was in der Schule Thema war. Sie beantragten beim Verwaltungsgericht die Befreiung vom vermeintlich frevelhaften Unterricht.

Als der Antrag schließlich auf dem Richtertisch landete, war das Kapitel Sexualkunde in der Klasse ihrer Tochter jedoch längst abgehandelt, so daß sich eine Entscheidung in der juristischen Hauptsache erübrigte. Bei ihrem Bescheid über die Kosten des Verfahrens schrieben die Richter jetzt jedoch fest, wie sie im Ernstfall entschieden hätten: Sofern beim Sexualkundeunterricht auch Abbildungen nackter Personen gezeigt würden, wäre „die einzige ermessensfehlerfreie Entscheidung“ die Befreiung des Mädchens vom Unterricht gewesen.

Nicht nur die Berliner Schulbehörde verzeichnet immer häufiger Klagen von muslimischen Eltern gegen schulische Inhalte und pädagogische Formen. Fast immer richten sich die Beschwerden dagegen, daß die Erziehung der Mädchen gegen die Regeln des Korans und das religiöse Empfinden verstoße. Nach einem jahrelangem Rechtsstreit hatte das Bundesverwaltungsgericht 1993 einige grundsätzliche Vorgaben gemacht, als es urteilte, einem streng gläubigen muslimischen Mädchen sei es nicht zumutbar, beim gemeinsamen Sportunterricht mit Jungen das Kopftuch abzunehmen. Die Schule habe sehr sorgsam das religiöse Empfinden zu achten und gegebenenfalls getrenntgeschlechtlichen Sportunterricht zu organisieren.

Im schulischen Alltag lassen bereits jetzt zahlreiche türkische und arabische Eltern ihre Töchter vom Schwimmunterricht befreien und untersagen ihnen die Teilnahme an Klassenfahrten. Bei der Berliner Schulverwaltung beobachtet man recht deutlich, daß mit dem Anwachsen von fundamentalistischen Strömungen der Druck auf die Schulen zunimmt und „der Wind schärfer weht“.