Wie ein Jäger, der sich dicht heranpirscht

„Stalker“ terrorisieren und verfolgen Mitmenschen. In Holland schließen sich die Opfer zusammen  ■ Von Henk Raijer

„Es fing an nach der Scheidung“, erzählt Anna L. „Er stellte mir nach, wenn ich den Hund ausführte, beschimpfte und bedrohte mich am Telefon, schlich in der Nacht ums Haus, drängte mich mit dem Auto von der Straße, erzählte Freunden, Kollegen und Nachbarn üble Geschichten über mich, schaltete unter meinem Namen Anzeigen, in denen ich mich als Prostituierte anbot. Ein ums andere Mal drohte er, daß er jeden umbringen werde, mit dem ich eine Beziehung anfangen sollte. Seither lebe ich in ständiger Angst: Wie weit wird er gehen, wird er womöglich die Kinder entführen, nur um mich fertigzumachen. Ich weiß nicht, wie ich ihn stoppen kann.“

Frauen wie Anna L., die von ihren Ex-Partnern belästigt werden, sind vogelfrei. Denn die Polizei hat nichts in der Hand, solange der Verlassene sein Opfer nicht mißhandelt oder einen materiellen Schaden verursacht. Dabei bringt der Terror, der „Stalking“ genannt wird, so manches Opfer zur Verzweiflung. Wörtlich aus dem Englischen übersetzt heißt „Stalker“ der Jäger, der sich an seine Beute heranschleicht. Stalker verfolgen und terrorisieren ihre „Beute“ systematisch und ohne absehbares Ende. Idole wie Sportler und Fernsehstars, aber auch Politiker haben manchmal Fans, deren Verehrung in eine Wahnvorstellung umgeschlagen ist. Die meisten Stalker jedoch suchen sich ihre Opfer in ihrer Umgebung: eine Kollegin etwa oder eine Schwiegertochter. Die weitaus größte Gruppe aber bilden Frauen, die von ihrem Ex-Partner bedrängt werden. Die Autorinnen Melita Schaum und Karen Parrish kommen in ihrem Buch „Stalked. Breaking the silence on the crime of stalking in America“ zu dem Ergebnis, daß in den USA mindestens einer von zwanzig Frauen zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben von einem Stalker das Leben zur Hölle gemacht wird. Das dürfte auch in Europa nicht viel anders sein.

In Holland wehren sich jetzt die Opfer. Seit einem Jahr gibt es die „Stichting Anti Stalking“ (SAS), die die Interessen von inzwischen 400 Betroffenen vertritt. Der Vorsitzende der Stiftung, der anonym bleiben möchte, weil er vom Ex- Mann seiner Frau verfolgt wird, schätzt, daß in den Niederlanden bis zu 20.000 Menschen unter Stalkern zu leiden haben. „Die Opfer eines solchen Terrors haben häufig Schwierigkeiten, ihr Problem zu beschreiben. Das macht sie für ihre Umgebung nicht gerade glaubwürdig. Die Leute denken: Ach, dieses verrückte Weib mit ihren phantastischen Erzählungen, sie sollte lieber in eine Therapie gehen. Wir als Betroffene wissen, daß sich ihre oftmals unglaublichen Geschichten tatsächlich so zugetragen haben.“ Aus den Gesprächen in den Selbsthilfegruppen der SAS weiß der Initiator der Stiftung, wovon er spricht. Erst kürzlich habe eine Frau berichtet, wie sie viermal kurz hintereinander angerufen wurde und durch eine geschickte Tonbandmanipulation hören konnte, wie ihr ältester Sohn getötet wurde. Eine andere Frau mußte feststellen, daß sie ohne ihr Wissen in ihrem Schlafzimmer fotografiert worden war, vermutlich mittels einer heimlich installierten Minikamera. Die Aufnahmen zirkulierten eines Tages an ihrem Arbeitsplatz, die männlichen Kollegen geilten sich daran auf.

„So was macht die Menschen fertig“, analysierte vor kurzem der Amsterdamer Psychiater A. P. de Boer in der Tageszeitung De Volkskrant. Stalking-Opfer kämen sich meist isoliert und wehrlos vor, hätten das Gefühl, in einer Falle zu stecken. Nicht nur einmal sei es vorgekommen, daß eine Frau nach jahrelangem Terror Selbstmord begangen habe. De Boer, der über das Phänomen Mord aus Leidenschaft promoviert hat, mußte bei seinen Recherchen auch feststellen, daß der Tötung eines Lebenspartners in 20 Prozent der Fälle Stalking vorangegangen sei. „Dabei ist der Tod nicht das eigentliche Ziel“, urteilt de Boer, der in seiner Praxis Täter wie Opfer therapiert. „Der Terror gibt dem Leben solcher Leute erst Sinn. Stalker wollen meist nur verhindern, daß ihr Opfer eine neue Beziehung eingeht. Ihr Ziel ist es nicht, zu töten, sondern das Leben des Ex-Partners zu vernichten.“

Ziel der „Stichting Anti Stalking“ ist es, den Opfern in Selbsthilfegruppen Mut zu machen, Verhaltenstips für den Alltag zu geben und die Öffentlichkeit für deren Nöte zu sensibilisieren. Aber auch und vor allem, ein Anti-Stalking- Gesetz wie in Kanada, Australien und den USA auf den Weg zu bringen, das die Opfer wirklich schützt. Denn ein Kontakt- oder Aufenthaltsverbot in Straße oder Bezirk nützen wenig. Nicht umsonst werden in den USA solche richterlichen Anordnungen „orders of illusion“ genannt. Sie rufen nur Aggression oder eine noch tiefere Besessenheit hervor.

Strafrechtliche Verfolgung ist für den Haager Politiker Boris Dittrich die einzig wirksame Lösung, die Täter zu „therapieren“. Der Abgeordnete der linksliberalen D'66, der als Rechtsanwalt jahrelang von einem Stalker belästigt wurde, will noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf einbringen. Hollands sozialdemokratische Justizministerin Winnie Sorgdrager jedoch winkt ab: Die Beweislast sei in fast allen Fällen viel zu schwierig. Sie ist der Meinung, in besonders drastischen Fällen solle ein bestehendes Gesetz angewendet werden, das die psychiatrische Zwangseinweisung jener vorsieht, die für sich und ihre Umgebung eine Gefahr darstellen.

Die Gefahr für die Opfer ist bei Stalking nur schwer zu bestimmen. Ist einer schon gefährlich, wenn er jemand einen ganzen Tag lang mit dem Fernrohr ausspioniert? „Stalker sind durchweg ganz normale Menschen, freundlich und charmant“, so die Einschätzung der SAS. „Niemand würde vermuten, daß sich hinter dieser Fassade Psychopathen verbergen, die ihre Opfer oft an den Rand des Wahnsinns oder gar in den Selbstmord treiben, die manchmal auch vor Mord nicht zurückschrecken. Es ist an der Zeit, daß die Öffentlichkeit erfährt, was dieser Terror anrichtet.“ Für die zuständigen Berufsgruppen aus Polizei, Justiz und Gesundheitswesen hat die SAS nun zum ersten Mal ein Symposium organisiert, das am 15. Mai im niederländischen Zwolle stattfindet.

SAS, Tel. 0031-593-346476