Nachts herrschen die Kalaschnikows

In der albanischen Hafenstadt Vlora, dem Zentrum der Revolte, traut sich abends keiner auf die Straße. Noch ist die Angst vor einer Invasion aus dem Norden größer als vor den Herren der Nacht  ■ Aus Vlora Thomas Schmid

Lek Zogu ist das, was man eine stattliche Erscheinung nennt. Groß, weder übermäßig dick noch ausgesprochen dünn und elegant gekleidet. Auf dem Hauptplatz von Vlora aber wirkt der König von Albanien denn doch ziemlich klein. Er hat sich ausgerechnet vor der riesigen, über zwanzig Meter hohen Unabhängigkeitsstatue aufgepflanzt, vor einem steinernen Krieger, der mit wehender Flagge und stürmischem Schritt einer leuchtenden Zukunft entgegeneilt. Lek Zogu, der nicht hier stünde, wäre sein Vater, der Präsident Ahmed Zogu, im Jahre 1928 nicht auf die Idee verfallen, sich zum König Albaniens auszurufen, bittet um eine Schweigeminute für die Toten. „Wir wollen keinen König! Wir wollen unser Geld!“ schreien die etwa 2.000 Menschen. Sie alle haben ihre Ersparnisse beim Zusammenbruch der sogenannten Finanzpyramiden verloren.

Schließlich lassen sie den Mann doch reden. Immerhin ist er extra vom fernen Südafrika ins Zentrum der Revolte, in die Hafenstadt im Süden des Landes, gereist. „Es lebe das Volk von Vlora!“ schließt der König seine Ansprache. Statt eines Applauses hallt ihm in italienischer Sprache ein rhythmisch skandiertes „Sali Berisha, vaffanculo!“ entgegen. Einige recken unübersehbar den Mittelfinger in die Höhe. Die obszöne Geste gilt dem Präsidenten in Tirana, und die Botschaft soll nicht der König, sondern das italienische Kamerateam übermitteln, das neben ihm steht. Als dann ein Vertreter der monarchistischen Partei das Wort zu ergreifen versucht, knattern die Kalaschnikows. Unter einem Hagel von Steinen verläßt der hohe Gast den ungastlichen Ort.

In Vlora ist man stolz auf die Geschichte der Stadt. Hier wurde 1912 die Unabhängigkeit Albaniens ausgerufen. Hier mutierte die Frustration über die verlorenen Ersparnisse zu einer bewaffneten Revolte, die auf den ganzen Süden des Landes übergriff und mit der Auflösung der Armee schließlich zum Zusammenbruch des Staates führte. Die Regierung bat, unterstützt von der Opposition, um eine internationale Intervention – einmalig im Nachkriegseuropa. Auch Vlora, fest in Rebellenhand, hat die Ankunft der internationalen Truppe begrüßt. Mit Blumen zog ein Empfangskomitee der Aufständischen den Soldaten des italienischen Marineregiments San Marco entgegen, die am Montag letzter Woche im Hafen landeten. Selbst Zani Caushi, der legendäre Führer der Milizen oder Anführer einer bewaffneten Bande, erschien an der Mole, um mit dem Kommandanten zu sprechen. Doch der ignorierte den Rebellen. Immerhin hatte ein Händedruck zwischen diesem und dem italienischen Botschafter in Albanien in Rom zu Mißstimmungen geführt. So zog Zani zum Kommandanten der griechischen Einheit weiter, der ihn herzlich umarmte. Aber Zani sei, so heißt es in der Stadt, nun beleidigt. Journalisten will er jedenfalls nicht mehr sprechen.

Zu Spannungen oder gar Konflikten mit Einheimischen sei es bislang nicht gekommen, sagt Oberst Lops, der Kommandant eines der beiden italienischen Camps in der Stadt. Die Entwaffnung der Rebellen stehe nicht auf dem Programm, das Mandat erlaube den Einsatz der Schußwaffe nur zur Selbstverteidigung. Und vorerst gehe es nur darum, die Logistik zum Schutz der humanitären Hilfe aufzubauen. Nein, von der militärischen Front gibt es absolut nichts zu melden.

Zerschlagene Vitrinen und zerdepperte Kioske künden in Vlora von unruhigeren Zeiten. Ab und zu schlendert noch einer mit der Kalaschnikow durch die Straßen. Die Schulen sind geschlossen. Ansonsten aber herrscht in der Stadt weitgehend Normalität. Mütter führen ihre Kinder aus, auf den Steinbänken spielen alte Männer Karten, und in der heruntergekommenen Parkanlage weiden neben der verrosteten Ruine eines Karussells zwei Gäule. Und es gibt sogar wieder eine reguläre Polizei. Ihr Chef, von der neuen Regierung der nationalen Versöhnung, vor anderthalb Monaten eingesetzt, heißt Milto Kordha. In Pulli und schwarzer Lederjacke sitzt er in seinem provisorischen Büro. Das alte Polizeikommissariat ist abgebrannt. Der Mann versteht etwas von seinem Job. Unter den Kommunisten war er schließlich zwanzig Jahre lang Polizist, bis er von Berishas Regime vor fünf Jahren entlassen wurde.

„Doch wie soll man Ordnung schaffen mit 300 Mann, die über nur drei gepanzerte Fahrzeuge und nur sieben Schußwesten verfügen?“ Freimütig gibt Kordha zu, daß auch seine Mannen sich nachts nicht auf die Straßen trauen. Sobald es dunkel wird, geht die Schießerei los. Stundenlang hält das Konzert der Kalaschnikows an. Jugendliche, die sich über ihr neues Spielzeug freuen? Rebellen, die Präsenz markieren? Bandenkrieg zwischen verschiedenen Gangs von Schmugglern? So genau weiß es niemand. Nahezu jeder, der halbwüchsig oder älter ist, hat eine Knarre zu Hause. 48 Menschen sind in der Stadt seit Beginn der Rebellion erschossen worden.

Etwa die Hälfte der Todesfälle führt der Polizeichef auf Bandenkrieg zurück, die andere Hälfte auf unsachgemäße Bedienung der Waffe. Das Volk rücke die Kalaschnikows nicht heraus, solange Berisha an der Macht sei. Sobald ein gutes politisches Klima herrsche, werde sich dies ändern. „Aber wenn wir Leute sehen, die mit der Waffe spazierengehen, nehmen wir sie ihnen natürlich ab.“ Ob das auch für Zani gelte? Der Polizeichef zögert kurz und erklärt dann bestimmt: „Zani erfüllt eine patriotische Aufgabe. Er versucht Ordnung zu schaffen. Auch wir versuchen das. Also arbeiten wir zusammen. Ich sage ihm: ,Okay, du hast eine patriotische Aufgabe übernommen, dann handle nicht wie ein Verbrecher!‘“ Im übrigen spreche Zani gewissermaßen im Namen des Komitees.

Das „Komitee“ ist die oberste Autorität in Vlora. Es besteht aus Vertretern aller Parteien, einschließlich der Demokratischen Partei von Präsident Berisha, einigen Notabeln und Intellektuellen sowie zwei früheren Militärs – insgesamt 35 Personen. Ihr Sprecher ist Dashamir Beja, Absolvent der Militärakademie und studierter Philosoph. Seine Brötchen verdient er sich als Besitzer einer Bar. Im Zeitraffer erzählt er die jüngste Geschichte der Stadt.

Nach dem Zusammenbruch der Pyramiden sei es zu Protesten gekommen, worauf Berisha seine Spezialtruppen geschickt habe. Dann erst seien drei Menschen zu Tode gekommen, wonach der Stadtrat den Rücktritt der Regierung verlangt habe, was 57 Studenten mit einem Hungerstreik unterstützt hätten. Diese seien vom Geheimdienst provoziert worden. Die Bevölkerung habe sie jedoch unterstützt. Schließlich hätten Berishas Mannen das Feuer eröffnet, woraufhin die Stadt zu den Waffen gegriffen habe. Dann sei zur Verteidigung der Stadt das Komitee gebildet worden. Was aber macht es? Das Komitee tagt täglich und ruft anschließend die Leute zur Kundgebung auf, um ihnen immer wieder von neuem mitzuteilen, daß man den Rücktritt von Berisha und die Rückgabe der verlorenen Ersparnisse fordere.

Unten am Strand, in den einfachen Holzhütten, auf denen „Bar“ oder „Hamburger“ steht, treffen sich die Ganoven. So hört man es in der Stadt. Jedenfalls kurven auffällig viele teure Schlitten die Promenade entlang, und viele Fahrer scheinen sich geradezu Mühe zu geben, so auszusehen, wie man sich Ganoven landläufig vorstellt: Sonnenbrille, schwarze Lederjacke, breiter Gürtel mit glänzenden Nieten. Hier mokieren sich viele übers Komitee und machen keinen Hehl daraus, daß sie Politik wenig interessiert. Hauptsache, die Geschäfte werden nicht gestört. „Jeden Abend fahren hier an der engsten Stelle der Adria die Schnellboote nach Italien rüber, und das zweimal pro Nacht, wenn das Meer nicht allzu stürmisch ist“, sagt Eduard, der selbst oft genug Leute hinübergefahren haben will. „Hier passieren noch ganz andere krumme Sachen.“

Das alles ist kein Geheimnis. Schließlich sagen auch die Marinesoldaten des Regiments San Marco, daß die Kriegsschiffe gegen die wendigen Schnellboote machtlos sind, wenn sie sie nicht versenken dürfen. Jüngst erst wurden vor der italienischen Küste einige Tonnen Haschisch aus Albanien beschlagnahmt. Junge Männer, die für umgerechnet tausend Mark nach Italien hinüberwollen, finden sich offenbar immer. Die Boote fahren von einer Bucht außerhalb der Stadt ab, die Triporto genannt wird – natürlich nachts, wenn überall die Kalaschnikows rattern und jede weitere Recherche lebensgefährlich wird.

Die ganze Stadt lebt gewissermaßen von der Konterbande. Nicht, daß sich alle daran beteiligen würden. Aber Vlora ist Umschlagplatz für Schmuggelgut. Hier wird Geld gemacht, das zu einem wenn auch geringen Teil wieder in die örtliche Wirtschaft einsickert und diese am Leben erhält. Man sieht dies der Stadt an. Die Versorgung ist vergleichsweise gut. Es gibt relativ viele Neubauten, auch wenn der Zusammenbruch der Pyramiden ihrer Fertigstellung oft zuvorgekommen ist. Doch was ist der Preis dieser Entwicklung? Polizeichef Milto Kordha beklagt, daß die Polizeiboote, mit denen man den Schmuggel bekämpfen könnte, als Flüchtlingsboote von den Italienern beschlagnahmt wurden. Er meint, die alte Polizei habe den Schmuggel gedeckt. Ist er sicher, daß es die neue nicht tut? Dashamir Beja, Sprecher des Komitees, bezichtigt den italienischen Botschafter Foresti des Schmuggels mit Prostituierten und behauptet, die nächtlichen Schüsse stammten von Männern, die ihre privaten Läden verteidigten. Vor wem denn müssen diese verteidigt werden? Ein italienischer Geschäftsmann hat gerade Vlora verlassen, weil ihm nach eigenen Aussagen ein Schutzgeld von umgerechnet 100.000 Mark abgefordert wurde.

Auf dem Platz vor der Unabhängigkeitsstatue, wo König Lek Zogu gesprochen hat, haben sich einen Tag später wieder Menschen versammelt. Die Repräsentanten von Komitees aus rund 20 Städten Albaniens haben sich in Vlora getroffen. Einer verliest die gemeinsame Resolution. Gefordert werden die Rückgabe von 100 Prozent der bei den Pyramiden angelegten Gelder und der Rücktritt Berishas. Angesichts von Plänen aus Geheimdienstkreisen, die Revolte im Süden zu zerschlagen, wird die Schaffung eines nationalen Rats mit Sitz in Vlora angekündigt. Es sind wieder rund 2.000 Menschen gekommen. Sehr wenig angesichts der beschworenen dramatischen Lage. Aber noch haben die Leute vor den Truppen des Nordens mehr Angst als vor den nächtlichen Schützen. Wie lange noch?