■ Ökolumne
: Im Halbschlaf Von Sebastian Pflugbeil

Können wir uns noch an Gefühle erinnern, die wir vor elf Jahren hatten? Wie lange dauert es, bis wir beginnen, zu vergessen? Sind wir in der Lage, aus Erfahrungen zu lernen?

Wie keine Katastrophe zuvor hat Tschernobyl Radionuklide, Herzen und Köpfe in Bewegung versetzt. Nie zuvor waren so viele Bürger bereit, über eine so lange Zeit so vielen Betroffenen zu helfen, über die Folgen der Katastrophe hinwegzukommen, mit Spenden, mit Zeit, mit persönlicher Freundschaft und Gastfreundschaft.

Darauf können wir eigentlich stolz sein. Ohne eine Mark in der Tasche, ohne Organisationen, Verbände, Geschäftsführer, Büros, und ohne je den Begriff Fundraising gehört zu haben, fingen wir an, Kinder aus Tschernobyl einzuladen, nicht nur zwei, drei oder fünf, sondern Zigtausende. Am Anfang gab es zwar viele Probleme, aber es ging trotzdem erstaunlich gut.

Dann wurden fast unmerklich aus Erholungsreisen Westreisen, aus humanitärer Hilfe Geschäfte, aus selbstverständlicher, herzlicher Hilfsbereitschaft professionelle Spendenwerbung, aus solidarischer Nachdenklichkeit Kampagnen zu den Jahrestagen. Man mußte entscheiden, sich von Freunden zu trennen oder Betrügereien zu vertuschen. Das Flugfeld, von dem die Solidarität wie von selbst abhob, wurde zu einer Holperstraße, auf der wir nur schlecht vorankamen. Zuweilen verwandelte sich gar die Solidarität in eine Rasierklinge.

Wenn die belorussische Regierung heute die Vorschriften bezüglich humanitärer Hilfssendungen auf unangenehme Weise verschärft hat, müssen wir uns und unsere Freunde in Belorußland fragen lassen, wie weit wir solch unpopuläre Maßnahmen der Regierung Lukatschenko mitverursacht haben: durch wirklich unqualifizierte Hilfe oder dieses und jenes Geschäftchen, das nun wirklich nichts mehr mit humanitärer Hilfe zu tun hatte.

Aber ganz so schlimm ist es nun doch nicht, wir haben auch gelernt: Hilfe besteht nicht nur daraus, gerne zu geben, sie muß auch ankommen. Behandlung kranker Kinder in Deutschland ist gut, funktionierende Gesundheitseinrichtungen vor Ort sind viel besser. Medikamente sind erforderlich, aber keine Säcke mit überflüssigen Ärztemustern, keine verfallenen Chargen. Neue medizinische Geräte werden gebraucht, samt Ersatzteilen und Verbrauchsmaterial, ausrangierte deutsche Medizintechnik aber gehört auf deutsche Schrottplätze. Humanitäre Hilfe soll der betroffenen Bevölkerung möglichst direkt zuteil werden, sie muß jedoch Gesetze und Strukturen des Empfängerlandes respektieren.

Es gibt Erfolge der Tschernobyl-Hilfe, auf die wir stolz sein können. Dazu zähle ich den systematischen Aufbau von Einrichtungen zur Behandlung von Schilddrüsenkrebs in Belorußland unter der Leitung von Prof. Lengfelder (München). Dazu gehören eine endokrinologische Poliklinik in dem am höchsten betroffenen Gebiet Gomel, Radiojodtherapie (Gomel), Hormonlabor und Histologisches Labor (am Nationalen Schilddrüsenzentrum der Onkologischen Poliklinik Minsk). Diese Einrichtungen arbeiten auf dem Niveau deutscher Uni-Kliniken.

Es gibt keinen Grund mehr, die erkrankten Kinder als preiswerte Versuchskaninchen in Europa hin und her zu fahren, um Gewebeproben zu bekommen und Behandlungsmethoden für den nächsten schweren Unfall in Europa ausprobieren zu können. Es macht schon nachdenklich, weshalb Betriebsärzte aus deutschen Kernkraftwerken an dieser Stelle so aktiv wurden.

Zur Erinnerung: Wir hatten nach Tschernobyl verstanden, daß Kernkraftwerke kaputtgehen können. Wir hatten gefunden, daß in deutschen Kernkraftwerken so schwere Havarien möglich sind, daß sogar noch mehr Radioaktivität frei werden kann als in Tschernobyl. Bei der rund zehnfach höheren Besiedlungsdichte in Deutschland würde das bei wesentlich mehr Menschen zu gesundheitlichen Schäden führen, und die wirtschaftlichen Schäden wären wesentlich höher als in der Ukraine und Belorußland. Wir hatten verstanden, daß Katastrophenschutz die Folgen einer Atomkraftwerkkatastrophe nicht beherrschen kann. Können und wollen wir uns den Halbschlaf leisten, in den wir mittlerweile wieder zurückgerutscht sind?