Im Rausch der Langsamkeit

■ Von Sonnenaufgang bis -untergang: Die 14stündige Schiffsfahrt von Stettin nach Berlin bietet auf 167 Kilometern malerische Landschaften und technische Meisterleistungen

Verwundert reiben sich die Passagiere die Augen. Gerade noch schipperten sie auf dem Oder-Havel-Kanal an saftigen Wiesen vorbei, da tauchen unter ihnen plötzlich Eisenbahngleise auf. „Hä“, entfährt es einem jungen Mann, „wie geht denn das?“ Was wider jede Logik erscheint, ist eine technische Meisterleistung. In den 20er Jahren wurde bei Eberswalde die Kanalbrücke über die Eisenbahnlinie Berlin–Stettin gebaut.

Wer auf dem langsamsten, dafür aber erlebnisreichsten Weg von Berlin nach Stettin gelangen will, setzt sich auf ein Schiff der Stern- und Kreisschiffahrt, die zusammen mit Berolina einen Wochenendtrip in die polnische Werftstadt am unteren Odertal anbietet.

Roland Kaiser reibt sich den Schlaf aus den Augen. Der 29jährige Bootsmann, der schon aufgrund seines Alters nicht mit dem gleichnamigen Schlagersänger verwechselt werden kann, hat die Nacht an Bord des Passagierschiffes „MS Berolina“ verbracht. Am Vortag sind sie mit 60 Passagieren den Oder-Havel-Kanal und die Oder entlang von Berlin nach Stettin gefahren. Während diese auf dem Landweg zurück nach Berlin fahren, wirft Kaiser um sechs Uhr morgens wieder den 120 PS starken Dieselmotor an und nimmt mit den Passagieren, die am Vortag mit dem Bus von Berlin angereist sind, Kurs zurück auf das 167 Kilometer entfernte Berlin.

Als am vergangenen Wochenende die Saison eröffnet wurde, schien der Frühling noch in weiter Ferne. Als die „MS Berolina“ morgens ablegt, sind die Wiesen am Ufer und die Bänke auf dem Oberdeck mit einer dicken Reifschicht überzogen. Die Sonne, die wie ein riesiger roter Feuerball am Himmel über der Oder aufgeht, entschädigt die Passagiere für die wenigen Stunden Schlaf. Nach einem letzten Blick auf die imposante Kulisse der Wälle am Oderufer mit der Seeakademie, dem Nationalmuseum und dem Wojwodschaftsrat im Neorenaissancestil legt die „MS Berolina“ ab.

Langsam gleitet das Schiff die Westoder entlang. Dunst steigt vom Wasser empor. Gänzlich unbeeindruckt von der frühen Stunde und der empfindlichen Kälte scheinen nur die Männer zu sein, die in der morgendlichen Stille ihre Angeln ins Wasser halten. Doch die „MS Berolina“ ist mit ihrer Geschwindigkeit von 18 Kilometer pro Stunde kaum eine Gefahr für das sonntägliche Petri Heil.

Was den Anglern das Starren auf die Angel ist, ist den Schiffspassagieren das Betrachten der Landschaft. Und dafür ist auf der 167 Kilometer langen Strecke auf der Oder und dem Oder-Havel-Kanal Zeit genug. 14 Stunden braucht die „MS Berolina“ von Stettin bis zur Greenwichpromenade in Berlin- Tegel. Drei Schleusen und das Schiffshebewerk Niederfinow gleichen die Höhenunterschiede aus. „Für Natur- und Technikfreunde ist die Fahrt ein absolutes Muß“, sagt Kaiser. Der Bootsmann erzählt, daß es anfangs vorwiegend ältere, in Stettin geborene Passagiere waren, die die seit fünf Jahren angebotene Fahrt buchten. Doch mittlerweile würden zunehmend auch jüngere Leute an Bord gehen, die weniger an der Vergangenheit als an der malerischen Oderlandschaft interessiert seien. Auch wenn Kaiser die Strecke mittlerweile mehrere Dutzend Male langgeschippert ist, langweilt sich der Bootsmann nicht. „Das ist doch besser, als in Berlin immer nur um den Kirchturm rumzufahren“, sagt er und schaut den Wildgänsen zu, die vor dem Schiff fliehen.

Nach zwei Stunden Fahrt entlang des vor zwei Jahren zum ersten deutsch-polnischen Nationalpark erklärten Feuchtgebietes zwischen Ost- und Westoder erreicht das Schiff die Grenzkontrolle Mescherin. Daß die Westoder kanalisiert ist, fällt kaum auf. Statt aufgehäufter Befestigungssteine bildet eine üppige Vegetation den Uferabschluß. Die Gegend sieht aus wie ein Stück heile Welt: Einzelne Gehöfte verlieren sich in der flachen Landschaft, ein Hahn kräht, Vögel zwitschern. Die Passagiere begrüßen die ersten Störche mit ausgestrecktem Zeigefinger und verklärten Augen.

Nach Mescherin wird die Landschaft hügeliger und der Wald dichter. Zwischen zwei Pfeilern einer im Zweiten Weltkrieg zerstörten Straßenbrücke passiert das Schiff das Kleinstädtchen Gartz, die erste deutsche Ortschaft nach der Grenze. Langsam ziehen die Reste der Stadtmauer aus dem 15. Jahrhundert mit dem Mauerturm vorbei. Nach weiteren zwei Stunden Fahrt wird das Schilfufer, aus dem sich hin und wieder aufgeschreckte Enten oder Fischreiher erheben, von der Papierfabrik am Ufer in Schwedt unterbrochen. Dahinter steigen schmutzige Wolken aus dem Petrochemischen Kombinat gen Himmel auf.

Wenige Kilometer weiter legen die fotobegeisterten Passagiere den Finger wieder auf den Auslöser. In dem Dörfchen Criewen mit seinem Landschaftspark von 1822, das wenige Meter vom Ufer entfernt auf der rechten Seite liegt, scheint die Zeit stillzustehen. Das ehemalige Schloß der Familie von Arnim und die 700 Jahre alte Feldsteinkirche bilden eine malerische Kulisse. Der nächste Ort – Stolpe – ist schon aus der Ferne zu erkennen. Auf einem 54 Meter hohen Hügel über dem Dorf erhebt sich einer der dicksten mittelalterlichen Türme Deutschlands, der „Grütztopp“ aus dem 12. Jahrhundert. Als wäre das alles nicht schon idyllisch genug, zieht auch noch ein Bauer wenige Meter weiter einen zotteligen Gaul über eine Brücke und verschwindet zwischen dicken Weiden.

Nachdem die Passagiere Frikassee, Rumpsteak und Erbseintopf mit Bockwurst gegessen haben, passiert die „MS Berolina“ die Schleuse in Hohensaaten, wo die Westoder in den 135 Kilometer langen Oder-Havel-Kanal fließt. Das Schiff gleitet an dem Dorf Oderberg mit seinen schönen alten Fachwerkhäusern vorbei. Kurz nach Oderberg dann wird die „MS Berolina“ im Schiffshebewerk Niederfinow in nur wenigen Minuten 35 Meter hoch gehoben – ein Spektakel, das nicht nur die Schiffspassagiere, sondern auch zahlreiche Wochenendausflügler begeistert, die den Stahlgiganten von Land aus bestaunen. Kurz nach dem Stahlwerk in Hennigsdorf passiert das Schiff bei km 29 Lehnitz, die letzte Schleuse der Strecke, die das Schiff um sechs Meter auf das Niveau der Berliner Wasserstraßen absenkt. Als die „MS Berolina“ durch den Lehnitzsee fährt, geht die Sonne unter. Das Stahlwerk Hennigsdorf mit seinen meterhohen Eisenbergen und Schornsteinen kündigt die Rückkehr in die Stadt an. Barbara Bollwahn