Der Vatikan schwieg zur Verfolgung der Juden

Papst Pius XI. wollte zu Hitler nicht schweigen. Er gab 1938 eine Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus in Auftrag. Sein Nachfolger Papst Pius XII. ließ sie in der Schublade verschwinden. Die Geschichte eines Dokuments  ■ Von Sven Kramer

Als die Nazis die europäischen Juden umbrachten, schwieg der Heilige Stuhl. Papst Pius XII. setzte auf stille Diplomatie, die jedoch an Hitler und seinen willigen Vollstreckern wirkungslos abprallte. Die katholische Kirche hat durch ihr Schweigen Schuld auf sich geladen. Das ist bekannt und gehört spätestens seit Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ zum Allgemeinwissen.

Weniger bekannt ist, daß Pius XI., der greise Vorgänger von Pius XII., schon im Juni 1938 ein Rundschreiben zur Verurteilung des Rassismus in Auftrag gegeben hatte. Diese Enzyklika lag unvollendet auf seinem Arbeitstisch, als er am 10. Februar 1939 starb. Pius XII. verbannte sie in die Archive des Vatikan, wo sie heute noch unter Verschluß gehalten wird.

Doch es gab Kopien! Eine liegt in der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach – ebenfalls unzugänglich. Nach kriminalistischer Kleinarbeit spürten Georges Passelecq und Bernard Suchecky in den USA eine zweite Kopie auf. Diese publizierten und kommentierten sie. Ein historisches Dokument ersten Ranges, zweifellos. Muß also die Kirchengeschichte umgeschrieben werden?

Immerhin bezieht die unvollendete Enzyklika unter dem Titel „Die Einheit des Menschengeschlechts“ ganz eindeutig Stellung: „Die Verfolgungsmethoden des Antisemitismus sind mit dem wahren Geist der katholischen Kirche in keinster Weise in Einklang zu bringen.“

Darüber hinaus verwirft das Rundschreiben jeden biologisch abgeleiteten Rassenbegriff. Philosophie, Wissenschaft und Offenbarung „zeigen die ursprüngliche und wesentliche Einheit der menschlichen Rasse auf und die Tatsache, daß die grundlegenden Tendenzen nicht auf ursprüngliche Unterschiede des Blutes, sondern auf den Einfluß der Umwelt zurückzuführen sind.“

Christus sei der Erlöser für alle gewesen, deshalb rangiere die Einheit der Menschen vor ihrer Unterschiedlichkeit. Indem der Text sich nichts abhandeln läßt von der Zugehörigkeit jedes einzelnen zur Menschheit, greift er in der Tat die theoretische Basis des Rassismus an, der die radikale, biologisch bedingte Unterschiedlichkeit zum Argument für die Ausgrenzung und die Verfolgung macht. In einer utopischen Wendung spricht der päpstliche Entwurf dann sogar davon, daß „die Erfüllung der göttlichen Pläne in der Vielfalt und Mischung der Rassen“ liege.

War das zuviel für manchen im Vatikan? Päpste verfassen die Enzykliken nicht selbst, sie beauftragen Theologen ihres Vertrauens und bearbeiten dann die Endversion. Völlig unerwartet betraute Pius XI. den amerikanischen Jesuiten John LaFarge mit der Ausarbeitung. Der Vatikan teilte ihm Gustave Desbuquois und den Sozialethiker Gustav Gundlach als Mitarbeiter zu. LaFarge lieferte den Entwurf schon Ende September ab. Warum autorisierte Pius XI. ihn nicht? Wollte er sich den Text nicht zu eigen machen? Oder verschwand die Enzyklika zunächst in den dunklen Korridoren des Vatikan, unterschlagen von internen Gegenspielern?

Passelecq und Suchecky prüfen gewissenhaft, mitunter etwas langatmig, verschiedene Varianten und kommen zu dem Schluß, daß hierüber kein Urteil möglich sei. Worüber sie – und in seiner Einleitung auch Emile Poulat – ein Urteil fällen können, ist die unheilvolle Kontinuität, in der selbst diese Schrift noch steht. Zwar tritt sie dem Antisemitismus entgegen. Aber wie steht es mit dem Antijudaismus?

Eine weitbekannte Geschichte erzählt, daß einst die Stämme Israels von Gott vor anderen auserwählt wurden zum Bunde mit ihm. Aber als dann der von den Propheten angekündigte Erlöser kam, schlug ihn das eigene, jüdische Volk ans Kreuz. Für die Enzyklika ist diese Legende eine historische Wahrheit. Daraus ergibt sich das, was die Schrift die „religiöse Sonderstellung“ der Juden und die religiöse „Judenfrage“ nennt.

Plötzlich verändert sich also der Ton, die Juden erscheinen „durch den Traum von weltlichem Gewinn und materiellem Erfolg verblendet“, als ein „Volk, das sich selbst ins Unglück stürzte“ und „eine beständige Feindschaft gegenüber dem Christentum“ hegte. „Maßnahmen zur Selbstverteidigung“ seien gerechtfertigt – allerdings mögen Gerechtigkeit und Nächstenliebe gewahrt bleiben. Letztlich müßten die Juden ihre historische Schuld einsehen und reuig konvertieren.

Da sind sie also wieder, die alten Vorurteile, auch in dieser angeblich so fortschrittlichen Enzyklika. Sie stammen wahrscheinlich von dem deutschen Jesuiten Gustav Gundlach, der 1930 spitzfindig einen „unchristlichen“ von einem „erlaubten“ Antisemitismus abgrenzte.

Für den „erlaubten“ schlägt Poulat den Begriff des Antijudaismus vor, den er als „religiösen Fundamentalismus“ begreift. Während der Antisemitismus auf die Auslöschung der Juden ziele, versuche der Antijudaismus, sie zu bekehren und das auserwählte Volk seiner gottgewollten Bestimmung zuzuführen – dem christlichen Glauben.

Wie mit jedem Fundamentalismus, kann man auch mit dem katholischen nicht diskutieren. Solange die biblischen Legenden das Verhalten der Christen zu den Juden beeinflussen und diesen eine sogenannte Heilsperspektive aufnötigen, die einfach nur absurd ist, solange wird es auch keine Entspannung zwischen beiden Religionen geben.

Daß die Historiker die bedenklichen Dimensionen der Enzyklika herausstellen, ist ihr Verdienst. Trotz aller Unzulänglichkeiten hätte aber die Schrift des Papstes, mit ihrer Verurteilung des Rassismus im Jahre der „Kristallnacht“, zu einem Signal werden können.

Georges Passelecq/Bernard Suchecky: „Die unterschlagene Enzyklika. Der Vatikan und die Judenverfolung“. Aus dem Französischen von Marcus Sedlacek, Hanser Verlag, München 1997, geb., 322 S., 45,80 DM