„Die früheren Erlebnisse in Bosnien kamen wieder hoch“

■ Sibylle Rothkegel, Psychotherapeutin und Vizeleiterin des Behandlungs- zentrums für Folteropfer in Berlin, über die Retraumati- sierungen, die Abschiebungs- versuche bei den Frauen hervorrufen. Symptome sind Angst, Einsamkeit und Mißtrauen

Am Dienstag letzter Woche hat die Berliner Polizei zwei traumatisierte Bosnierinnen, Mutter und Tochter, aus dem Frauenflüchtlingshaus geholt, in Abschiebehaft gesteckt und erst am nächsten Abend wieder freigelassen. Der Abschiebeversuch war illegal, da die Frauen eine gerichtliche Zusicherung hatten, daß sie bleiben dürften, bis über ihr schwebendes Aufenthaltsverfahren entschieden sei.

taz: Frau Rothkegel, wie war der psychische Zustand der beiden Frauen, die in Berlin von Abschiebung bedroht waren?

Sibylle Rothkegel: Es hat eine neue Traumatisierung stattgefunden: Die früheren Erlebnisse in Bosnien kamen wieder hoch. Es ist ein Skandal, daß sie wie Kriminelle in Haft genommen werden, während die Kriegsverbrecher frei herumlaufen. Man hat sie nicht nur in tiefe Ängste gestürzt, man hat ihnen auch ihre Würde genommen. Die Frauen wollten ja schon bald freiwillig zurück. Man muß dazu wissen, daß die Mitarbeiterinnen dieses Frauenflüchtlingshauses sehr gute Beratungsarbeit machen. Sie bereiten die Bosnierinnen bilderbuchmäßig für die Rückkehr vor – von psychischer Unterstützung bis zur Bereitstellung von Unterkünften in Bosnien. Hier haben sie große Erfolge zu verzeichnen, und die möchte Berlins CDU-Innensenator Jörg Schönbohm schließlich immer sehen.

Wie haben denn die anderen Bewohnerinnen reagiert?

Mit Angst und Panik. Die sogenannte „posttraumatische Belastungsstörung“ ist eine sehr schwere Angsterkrankung in Reaktion auf grausame Erlebnisse. Schon in ihrem ganz normalen Alltag müssen die Betroffenen mit sehr vielen Ängsten leben, die durch solch einen Polizeieinsatz noch mal extrem verstärkt werden.

Was bedeutet posttraumatische Belastungsstörung?

Psychotraumata sind die Folge extremer Erlebnisse, die außerhalb des normalen Erfahrungsspektrums eines Menschen liegen. Die Bosnierinnen haben sich zum Teil monatelang in Kellern versteckt und/oder über lange Zeiträume in Todesangst gelebt. Sie haben Massenvergewaltigungen, Morde und andere Gewalttaten miterlebt. Ihr Selbst- und Weltverständnis ist dauerhaft erschüttert, sie fühlen sich schutzlos preisgegeben.

Die traumatischen Erlebnisse kehren periodisch in Alp- und Tagträumen wieder. Sie können durch Umgebungsreize ausgelöst werden, zum Beispiel durch Uniformierte mit Wachhund in einem U- Bahn-Waggon. Typische Symptome sind Panikanfälle, Phobien, Schwitzen, Zittern, Daueranspannung oder Antriebslosigkeit, Mißtrauen, Einsamkeit, Abkehr von der Welt. Denn gerade in Bosnien wurde der Nachbar, der Freund, der eigene Mann über Nacht zum Feind: In Bosnien waren 30 Prozent aller Ehen Mischehen.

Nur durch sehr intensive Arbeit gelingt es den Betreuerinnen oder auch unserem Behandlungszentrum, bei diesen Menschen ein Minimum an Vertrauen in die Welt wiederherzustellen. Ich kann die Sinnlosigkeit nicht akzeptieren, daß Schönbohms Polizei monatelange, wenn nicht jahrelange Arbeit der Betreuerinnen in wenigen Minuten kaputtmachen darf. Denn die verbleibenden Bosnierinnen vertrauen jetzt nichts und niemandem mehr: den Betreuerinnen nicht und schon gar nicht der deutschen Rechtsprechung.

Macht der Berliner Senat mit der rechten Hand kaputt, was er mit der linken aufgebaut hat?

Ja. Der Berliner Senat sagt immer: Die Flüchtlinge kosten uns zuviel. Dabei zerstört er die Arbeit, die er zum Teil mitfinanziert.

Interview: Ute Scheub