Und es gibt sie doch

Es geht, spricht und verhält sich wie die Linke. Kann man deshalb noch von einem linken Kulturverständnis sprechen? Eine Erörterung  ■ Von Andrei S. Markovits

In Zeiten der Ungewißheit, des Fließens, der Entmystifizierung und Dekonstruktion ist es nicht leicht, die klaren Konturen und Inhalte sozialer Phänomene zu bestimmen. Und dennoch bin ich mir sicher: Trotz der folgenschweren Ereignisse von 1989 und anderer grundlegend charakterverändernder Entwicklungen der Linken seit der Heraufkunft der neuen sozialen Bewegungen der siebziger Jahre und der Zäsur von „1968“ läßt sich noch immer ein soziales Gebilde identifizieren, das wie die Linke geht, wie die Linke spricht und sich so verhält – und daher auch die Linke ist. Dieses Gebilde mag erheblich scheckiger und schwerer zu definieren sein als sein sozialdemokratisch-kommunistischer Vorläufer (nämlich die „alte“ Linke) aus den achtzig Jahren davor, aber Mannigfaltigkeit macht die Dinge zwar komplexer, bedeutet aber keinesfalls notwendig ihre Negation.

Dies gilt auch für den Bereich linker Kulturbetrachtung, in dem sich zwar die Mannigfaltigkeit, die internen Streitereien und bunte Vielfalt der Linken spiegeln, die aber trotzdem noch immer genau wie die Linke selbst klare normative Richtlinien erkennen läßt, charakteristische Achsen und offensichtliche empirische Präferenzen.

Rechter und linker Ekel vor der Warenkultur

Dazu zähle ich vor allem die überragende Bedeutung der Authentizität. Für die linke Beurteilung, Wertschätzung und Einordnung kultureller Phänomene ist nichts so wichtig, als daß sie authentisch sind. Die Authentizität impliziert zwar eine ganze Reihe von Facetten, aber ihr springender Punkt für die Linke ist zweifellos die Distanz der Kultur zum Markt. Kurz gesagt: Je weniger ausgeprägt der Warencharakter einer bestimmten Kultur, desto weniger ist sie vom Markt beschmutzt; und desto authentischer und normativ wertvoller erscheint sie in den Augen der Linken.

Überraschenderweise sind sie in diesem Bereich ihres sozialen Geschmacks Marx und dem Marxismus ziemlich treu geblieben. Darüber hinaus trennt gerade der große Wert, den die Linke dem Nicht-Waren-Aspekt der Authentizität der Kultur beimißt, sie so emphatisch von den normativen Präferenzen der Rechten für eine Kultur, die ebenfalls auf Authentizität abstellt – diese aber gründet sich allein auf Tradition und bestimmte Überlieferungen, nicht auf die Marktferne der Kultur. Sicher, es gibt beunruhigende Berührungspunkte zwischen dem linken wie rechten Ekel vor jeder Art Warenkultur, sobald sie aus den Vereinigten Staaten kommt, jener „Bastion des Bösen“ der Warenwelt. Aber selbst hier unterscheiden sich Linke und Rechte in ihrem Hang zum Authentischen: Während jene die mangelnde Authentizität der amerikanischen Warenkultur anklagen, als handele es sich dabei um kaum mehr als eine krude Zurschaustellung überlegener Marktmacht auf der Suche nach Profit, betrachten letztere sie als Aushöhlung und Unterwanderung einheimischer Volkstradition und Wesensart. Die Linke sieht die McWorld als eine unauthentische und deshalb illegitime kulturelle Manifestation, wegen ihrer Marktursprünge und Profitorientierung; die Rechte umgekehrt erkennt in der McWorld eine finstere Machination zur Vernichtung überkommener lokaler Traditionen vorwiegend völkischer Art. So ergreifen beide Partei für lokale Revolten gegen McWorld, aber wiederum mit sehr verschiedenen Vorzeichen: Die Linke sieht in solchen Revolten authentische kulturelle und soziale „Ausbrüche“ aus der globalen Überwucherung durch einen ständig sich ausbreitenden Prozeß der Vermarktung, während die Rechte ihre Hoffnungen auf das Wiedererstarken alter – und damit authentischer – Formen nationaler oder religiöser Traditionen setzt.

Daneben ist der zweitwichtigste gemeinsame Nenner eines linken Kulturverständnisses sein antinomisches, oppositionelles und befreiendes Potential. Für die Linke ist Kultur dann normativ am besten, wenn sie eine deutliche Kraft des Widerstands gegen die Hegemonie der Herrschenden darstellt. Das gilt besonders dann, wenn Kultur eine revolutionäre Situation zum Ausdruck bringt, die einen greifbaren Bruch mit der Vergangenheit und dem etablierten Status quo darstellt. Aber selbst ohne eine solch seltene Gelegenheit hegt die Linke viel Sympathie für eine Kultur, die ihrem Wesen nach gegen die bestehenden Mächte eingestellt ist, gegen akzeptierte Sitten und Bräuche verstößt und gemeinhin unterdrückten Stimmen Ausdruck verleiht. Solange Kultur befreiende Themen und Inhalte aufweist, wird die Linke sie als legitim, erwünscht und authentisch begrüßen.

Linkssein im Rhythmus der Arbeiterklasse

Verändert haben sich im Übergang von der „alten“ zur „neuen“ Linken die Träger der Authentizität und die Agenten der Konterhegemonie. Für die „alte“ Linke verkörperten sich beide eindeutig in der Arbeiterklasse, jenem strukturellen Gebilde und soziologischen Kollektiv, das dieser Linken als Subjekt der Geschichte erschien, als Träger des Fortschritts zur qualitativ einzig gültigen Verbesserung menschlichen Lebens.

Die Kultur der Arbeiterklasse, wie sie in Gedichten, Liedern, Sport, Mode zum Ausdruck kam, gewann bei den meisten Linken Legitimität und Unschuld gerade deshalb, weil sie in ihrer warenfernen Natur authentisch war und einem System widerstand, das die Arbeiter unterdrückte. Die kulturelle Anziehungskraft dieser Art Ouvrierismus ist aus den politischen Präferenzen der heutigen Linken noch immer nicht ganz geschwunden. Seien es die Imitation Bruce-Springsteen-artiger Flanellhemden, Bluejeans und Arbeitsstiefel als authentischer Ausdruck amerikanischer Arbeiterkultur oder die vergleichbaren Ausdrucksformen in der Musik und anderen populären Medien in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent – die Kultur der Arbeiterklasse bleibt noch immer eine legitime Komponente in dem kulturellen Pantheon der Linken fortgeschrittener Industriegesellschaften.

Aufgrund der größeren Veränderungen, die sich mit der Heraufkunft der neuen Linken allgemein auf die Linke auswirkten, steht der Arbeiterklasse in diesem kulturellen Pantheon offensichtlich nur noch ein Sitz in den hinteren Reihen zu. Die wichtigen Exponenten sind jetzt Afroamerikaner (interessanterweise nicht nur in den Vereinigten Staaten); die verschiedensten Völker der Dritten Welt; Frauen, insbesondere feministische Frauen; und die Vertreter alternativer sexueller Lebensstile, von Homosexuellen und Lesben bis zu Transvestiten und Transsexuellen. Mit anderen Worten verlagerten sich im Verlauf der letzten 25 Jahre die Achsen der Authentizität und Konterhegemonie in der Wahrnehmung der Linken von der Arbeiterklasse zu einer bunten Reihe der verschiedenartigen Gruppen, durchaus vergleichbar mit der korrespondierenden Verlagerung in der Politik der Linken, die sich ebenfalls vom Primat der Arbeiterklasse zu einer Koalition unterschiedlicher Gruppen umorientierte – von dem, was in den USA als Politik der Klasse verstanden wurde, zu einer Politik der Identität.

Allmählich verankerte sich die Authentizität in einer Differenz, die häufig unüberbrückbare Dimensionen annahm, weil sie zugeschriebenen Merkmalen wie Rasse und Geschlecht zugeordnet wurde. Man beachte zum Beispiel die faszinierende Debatte amerikanischer Progressiver (in einem Forum wie der taz wagt man den Begriff der „amerikanischen Linken“ nicht in den Mund zu nehmen) über die kulturelle Authentizität des Blues. Manche behaupten, nur schwarze Musiker könnten den Blues wirklich authentisch und bedeutungsvoll spielen, im richtigen Ausdruck der Unterdrückung, der die Schwarzen in jenen sozialen Welten ausgesetzt waren, in denen sich diese Art Musik herausbildete (nämlich der Plantagenwirtschaft des alten Südens und den industriellen Ghettos der Städte im Norden, Chicago vor allem).

Der Unterdrückte gilt per se als authentisch

Die neuere Diskussion zwischen August Wilson, dem brillanten und vielfach ausgezeichneten schwarzen Dramatiker, und dem linksliberalen Theaterguru Robert Brustein in einer Reihe von Zeitschriften- und Zeitungsbeiträgen, die in einer großen Debatte am Broadway vor Tausenden aufmerksamen Zuschauern gipfelte, demonstriert die Bedeutung dieser innerlinken Kluft in der Wahrnehmung von Kultur als einem Bestandteil progressiver Politik und dem Wesen der heutigen Linken. Wilson argumentiert unerbittlich, nur ein abgetrenntes schwarzes Theater mit eigenen Dramatikern, Schauspielern, Regisseuren und Gruppen werde die Authentizität der Stimme der afroamerikanischen Gemeinschaft gewährleisten, die in einem größeren rassistischen Amerika immer eine unterdrückte Minderheit sein werde. Brustein vertritt mit ähnlichem Nachdruck, nur eine Kultur auf der Grundlage eines integrierten Universalismus könne darauf hoffen, in einer multikulturellen Gesellschaft wie der der USA zum richtigen Träger einer progressiven Koalition vielfältiger Gruppen zu werden. Oder betrachten wir den bereits erwähnten kulturellen Bonus, den afrikanisch-amerikanische Künstler bei europäischen Linken immer genossen haben, vom Paris der zwanziger und dreißiger Jahre über das Swinging London der Carnaby Street in den Sechzigern bis zur HipHop-Kultur unserer Zeit: Als am offensichtlichsten unterdrückte Gruppe in der am stärksten ausgeprägten Warengesellschaft der Welt galten Afroamerikaner in den Augen der europäischen Linken automatisch als authentisch. Wie aus einer Reihe neuerer Bücher über das Pariser Exil amerikanischer Schwarzer allerdings hinreichend deutlich wird, hatte diese Würdigung amerikanischer Schwarzer als authentische Stimme der amerikanischen Unterdrückten keinesfalls zur Folge, daß die französischen Linken diesen Exilierten das Leben leichter gemacht hätten als die übrigen zutiefst rassistischen Pariser. (Eines der besten dieser Bücher ist: Tyler Stoval: „Paris Noir, African Americans in the City of Light“; Houghton Mifflin, Boston 1997.)

Solange die Identität der Linken weiterhin hauptsächlich im Kampf um Gleichheit und Emanzipation der Schwachen und Unterdrückten liegen wird, bin ich sicher, daß es analytisch legitim und politisch nützlich bleiben wird, dieses Gebilde als „Linke“ zu bezeichnen. Diese beiden entscheidenden Kriterien – Kampf um Gleichheit und Emanzipation der Schwachen – sind hinreichend universal, um einen gemeinsamen Nenner für all jene zu bieten, die schwach sind und Unterstützung brauchen. Wer die Schwachen und Unterdrückten nun eigentlich sind, das bleibt eine empirische Frage, die am gegebenen Ort zur gegebenen Zeit beurteilt werden muß.

Aber solange der erwähnte gemeinsame Nenner auch weiterhin die – dringend benötigte – Existenz der „Linken“ gewährleistet, können wir ohne Bedenken feststellen, daß auch irgend etwas Ähnliches wie ein linkes Kulturverständnis Bestand haben wird. Möge es blühen und gedeihen in den gemeinsamen Grenzen seiner Verschiedenheit.

Von Andrei S. Markovits (zusammen mit Philip S. Gorski) ist gerade erschienen: „Grün schlägt Rot: Die deutsche Linke seit 1945“. Rotbuch-Verlag, Hamburg 1997 (siehe Besprechung in der taz vom 25.3. 1997)

Übersetzung: Meinolf Büning