UNO-Soldaten verstehen Voodoo nicht

Ermordete Polizisten, Generalstreik und Drohungen: Vor Senats- und Kommunalwahlen in Haiti schüren Anhänger von Expräsident Jean-Bertrand Aristide Gewalt gegen die Regierung  ■ Von Ralf Leonhard

Berin (taz) – Hexerei lautete die Anschuldigung, unter der ein Friedensrichter nahe der südwesthaitianischen Hafenstadt Jérémie vor kurzem einen Haftbefehl gegen einen jungen Mann ausstellte. Er habe die Schwester eines Polizisten durch Voodoozauber krank gemacht. Bevor der Verdächtige festgenommen werden konnte, wurde er von dem Polizisten erschossen. Kanadische Soldaten der UNO- Friedenstruppe, die zum Begräbnis eilten, fanden den Toten blutverschmiert im Sarg – ausgerüstet mit einem Küchenmesser und einem Spazierstock, um leichter ins Jenseits hinüberwandern zu können.

Die makabre Szene bildete einen Höhepunkt in einer offenbar politisch motivierten Welle von Gewalt, die zwischen Ende Februar und Ende März mehr als 50 Menschen auf Haiti das Leben gekostet hat. Sechs Polizisten wurden allein in der Hauptstadt Port-au- Prince ermordet, zwei weitere in der Hafenstadt Petit Goave. Das alles kommt kurz vor den Kommunalwahlen und Teilwahlen zum Senat am morgigen Sonntag – dem ersten Test für die Regierung, seit im Oktober 1994 eine US-geführte Invasion das blutige Militärregime verdrängt und den 1991 weggeputschten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide wieder an der Macht installierte.

Nach Aristides Rückkehr schien die Karibikrepublik sich nach Jahren der Diktatur zu stabilisieren. Doch schon die Präsidenten- und Parlamentswahlen im Dezember 1995 standen unter einem schlechten Stern. Aristide, der versucht hatte, seine durch den Putsch unterbrochene Amtszeit um die verlorenen drei Jahre zu verlängern, fügte sich nur unwillig der Verfassung, die eine Wiederwahl ausschließt. Die regierende Lavalas-Bewegung spaltete sich in einen pragmatischen Flügel – die „Politische Organisation Lavalas“ (OPL), der die Wahl von Aristides ehemaligem Premierminister René Préval als neuen Präsidenten unterstützte, und die Gruppe der bedingungslosen Anhängern des ehemaligen Salesianerpaters Aristide, die zur Stimmenthaltung aufrief. Zwar gewann Préval mit 80 Prozent der gültigen Stimmen, doch die Wahlbeteiligung von unter 30 Prozent ließ damals schon einen Machtkampf befürchten.

Den gibt es jetzt. 1996 gründete Aristide seine neue Partei, „Familie Lavalas“, deren Name an das Hilfswerk für Waisenkinder „La fanmi selavi“ erinnert, durch das der charismatische Exgeistliche einst populär wurde. Ihr Programm ist in erster Linie die Opposition zur Privatisierungs- und Sparpolitik, zu der die Regierung von Präsident Préval und Premierminister Rony Smarth von den internationalen Geldgebern gezwungen wird. Prompt liefen einige Parlamentarier von Prévals Fraktion zur neuen Partei über.

Für die Gewalt der letzten Wochen macht Aristide die Regierung verantwortlich. „Die Leute sollen eingeschüchtert werden, damit sie das neoliberale Programm akzeptieren“, sagte er kürzlich. Doch selbst alte Verbündete wie der Bürgermeister von Port-au-Prince, Manno Charlemagne, vermuten, daß Aristide selbst dahintersteckt. Vor allem in der großen Slum- stadt der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, Cité Soleil, wo Elend und Ignoranz zu Hause sind, spielt der frühere Präsident eine zwielichtige Rolle. Ganz sicher gehen zwei Generalstreiks am 20. und 26. März, bei denen zwei Aristide-treue Organisationen über Radio jedem, der zur Arbeit ginge, blutige Vergeltung androhten, auf das Konto des messianischen Führers. In Cap Haitien, der Metropole im Norden des Landes, kündigten Fanatiker vor dem Streik gar Lynchjustiz an und machten Anstalten, jeden Weißen mit brennenden Reifen um den Hals zu töten. Das Klima war dort so aggressiv, daß die UNO-Beobachter ihr ziviles Personal abzogen.

Trotzdem wurden die beiden Generalstreiks nur teilweise befolgt. Auch ein Mißtrauensantrag im Parlament, der Premier Smarth zu Fall bringen sollte, wurde am 26. März nach 14stündigen Debatten mit 37 gegen 29 Stimmen bei sechs Enthaltungen abgewehrt – zur großen Erleichterung der internationalen Diplomaten und Finanzinstitutionen, die die Ausschüttung von mehreren Dutzend Millionen Dollar Wirtschaftshilfe an ein Reformpaket geknüpft haben. Haiti hängt zu 64 Prozent von externer Finanzierung ab und müßte auch ohne diese Abhängigkeit seinen Staatsapparat, der durch Günstlinge der verschiedenen Diktaturen bis zur Unbeweglichkeit aufgebläht wurde, zurechtstutzen und heruntergewirtschaftete Staatsbetriebe abstoßen. Rony Smarth gab vor dem Parlament zu, daß es Haitis Armen heute nicht bessergehe als vorher – doch wenn der Reformplan der Regierung scheitere, würde es ihnen noch schlechter gehen.

So ist die jüngste Gewalt Teil des Machtkampfs zwischen den beiden Nachfolgefraktionen der „Lavalas“, die die morgigen Wahlen unter sich ausmachen werden – alle anderen Parteien boykottieren. Zwar werden nur neun der insgesamt 27 Senatoren ausgetauscht, doch könnte bei starken Erfolgen der „Familie Lavalas“ die Mehrheit der Regierung kippen. Ein von Aristide kontrolliertes Oberhaus würde mit Sicherheit das Mandat des Premierministers nicht verlängern. Im Rahmen von „Einkehrtagen“, bei denen er seine Kandidaten vorstellte, warnte Aristide, es sei höchste Zeit, daß das Volk nicht noch einmal „Leute wählt, die es anschließend gleich verraten“.