Im Schneckengang voran

Psychopathologie des Nachkriegslebens: Pepe Danquarts und Mirjam Quintes in Mostar gedrehte Langzeitdokumentation „Nach Saison“  ■ Von Thomas Groß

Daß die Frau unter den Trümmern ihrer Wohnung ausgerechnet Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens“ hervorzieht, gehört nicht nur zur Ironie dieses Krieges, es illustriert zugleich die Haltung der Kamera. „Nach Saison“, von 1994 bis 1996 in Mostar gedreht, beobachtet mit freischwebender Aufmerksamkeit die alltäglichen Kompromißbildungen zwischen jüngst Vergangenem und Gegenwart.

Nach zwei Bürgerkriegen in drei Jahren haben die ersten Cafés wiedereröffnet, es herrscht der Friede von Dayton, der eine möglichst rasche Öffnung der geteilten Stadt vorsieht – auf dem Papier. Die Körper und Gesten bleiben dagegen konservativ, als könnten sie es nicht fassen, daß nicht mehr geschossen wird, und manchmal kommt der Schock auch mit Zeitverzögerung. Der Krieg, sagt einer der alten Männer aus Ost-Mostar, ist wie eine „Krankheit, die man mit dem Pferd bringt, aber sie geht wie eine Schnecke“.

126 Minuten dauert die Dokumentation von Pepe Danquart und Mirjam Quinte, viel Zeit im Vergleich zur üblichen Fernsehberichterstattung (Leitspruch: „Ist der Korrespondent auch noch so fleißig, es bleibt einsdreißig“); aber die Untergrenze, um einen Begriff von der Langsamkeit psychischer Prozesse zu geben. „Wo soll das Problem sein?“ spricht die Lehrerin, die ihre zerstörte Wohnung gerade noch mit viel schwarzem Humor kommentiert hat, sich selbst Mut zu, um ein halbes Jahr später deprimiert feststellen zu müssen, daß man als Muslimin mit serbischem Ehemann und einer Tochter, die mit einem Kroaten verheiratet ist, im Mostar von heute doch ziemliche Schwierigkeiten am Bein hat.

Soldatische Jungmänner, die, ihres Geschäfts beraubt, in Kneipen abhängen, erklären auch ohne jede Scheu, warum: Nur ein toter Muslim ist für sie ein guter Muslim – nichts, gar nichts hat sich seit dem Waffenstillstand an ihrer einmal zementierten Version der Schuld geändert. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

Aber auch die Wohlmeinenden, die Gebildeten und würdigen Alten mit ihren Erinnerungen an Jahrzehnte friedlichen Zusammenlebens, kommen mit einer teilweise phantastischen Folklore der Zuschreibungen zu Wort. Kein gebürtiger Mostarer habe so etwas tun können, meint einer, Habenichtse von außerhalb seien es gewesen, heruntergekommen von irgendwelchen Bergen. Nein, die Chefs seien an allem schuld, die Bessergestellten, die ihre eigenen Söhne schonen und den armen Mann in den Schützengraben schicken.

In immer neuen Varianten umkreist die Sprache die Frage nach Ursprung und Motiv, bildet Täter- und Opfermythen, rekurriert am Ende auf den Körper als letzten und stummen Garanten von Wirklichkeit – am eindrücklichsten in jener Szene, die vor dem EU- Hauptquartier spielt: Aufgebrachte Invaliden recken dem im gepanzerten Mercedes hockenden Hans Koschnick in einer Variante des Zeigens ihre Stümpfe hin.

Im deutschen Fernsehen ist die Attacke auf den damaligen EU- Administrator als Nachricht gelaufen, die seinen Abschied vorwegnahm. „Nach Saison“ zeigt den allmählichen Prozeß der Desillusionierung. 1994 rumpelt Koschnick noch als deutscher Anpacker durch die Szenerie – eine sozialdemokratische Wiederaufbaumaschine, die etwas von dem Glück, nach 1945 in Deutschland von Racheakten der Alliierten verschont geblieben zu sein, an andere weitergeben will. Auch etwas Mauerfall würde der Exbürgermeister von Bremen wohl gerne nach Bosnien bringen. Weniger als ein Jahr später ist ihm auf durchaus kleinlaut zu nennende Weise klar, daß die Situationen nur bedingt vergleichbar sind: In Mostar ging der Krieg durch die Nachbarschaft. Die Grenze trennt nicht nur, sie schützt auch vor Konfrontationen, die bei dem herrschenden Mangel an Form, Recht und Verfahren womöglich nicht zu ertragen wären – selbst nicht für die Täter.

Koschnicks Variante der Geschichte ist aufgeklärt, seine Motive ehrenwert, doch auch er ist bei Danquart/Quinte nicht der Herr der Geschichte, der gescheiterte Held von Mostar – Opfer balkanischer Ränke und einer verfehlten EU-Politik; er ist selbst Teil eines Verkennungszusammenhangs, der sich mit Hemdsärmeln und gutem Willen allein nicht lösen läßt. Die Psychopathologie des bosnischen Nachkriegslebens bleibt ein Kompendium von Widersprüchen: in Bildern festzuhalten – als oral history, als Chronik –, aber nicht vorschnell auf den Begriff zu bringen. Wohl deshalb geistert ein namenloser, einheimisch wirkender Fotograf durch die Szenerie, der als schweigender Zeuge fungiert und die Bewegung hier und da zu Stills einfriert – Alter ego der Regisseure und zugleich Allegorie einer Geschichte, die von anderen verstanden, aber nur von den Betroffenen selbst gelöst werden kann.

Am Ende ein Fest, sommerlich gekleidete Leute, drei Mädchen flanieren zur Neretva. Wagemutige haben auf Stari Most, der zerstörten alten Brücke, ein Gerüst errichtet, von dessen Höhe sie sich in den Fluß fallen lassen – in Schwarzweiß. „Nach Saison“ ist in Schwarzweiß gedreht, nach zwei Jahren Mostarer Spurensicherung hatten Danquart/Quinte Angst vor der Postkartenidylle bekommen. Was wirklich nicht nötig gewesen wäre.

„Nach Saison. Mostar 1994 – 1996“. Regie: Pepe Danquart/Mirjam Quinte. Deutschland 1997. 126 Minuten

Hans Koschnicks Erfahrungen in Mostar sind in „Brücke über die Neretva“ (Koautor: Jens Schneider) nachzulesen. Deutscher Taschenbuch Verlag 1995