Kurt Scheels Lichtspiele
: „Was nun, Herr? Noch eine Witwe?“

■ Mörderisches Märchen, sicherer Alptraum: Charles Laughtons „The Night of the Hunter“

Einer der schönsten, der bizarrsten Filme, die ich kenne, ist „The Night of the Hunter“. Er gehört zu der gar nicht so kleinen Reihe von Filmen, in denen, sozusagen, Amerika und Europa eine wunderbare Verbindung eingegangen sind, eine merkwürdige Mischung aus Kunst und Kino, Poesie und Panik. Der Film ist nicht ganz so verrückt wie sein Protagonist, aber doch ziemlich, und er will eine Handvoll Geschichten gleichzeitig erzählen. Daß er letztlich nicht in seine heterogenen Teile auseinanderfällt, liegt an der Musik Walter Schumanns, die ihn mit einem Netz von Leitmotiven zusammenhält; an der Kamera von Stanley Cortez, die amerikanischen Realismus und europäische Künstlichkeit, hartes Licht und betörendes Chiaroscuro miteinander versöhnt; und, natürlich, den großartigen Schauspielern, die ihre eigene Kontinuität stiften.

Der Film ist theatralisch und expressionistisch, was ich eigentlich gräßlich finde, hier aber die Qualität des Märchenhaft-Grotesken bekommt und uns verzaubert wie seit der Kindheit nicht mehr.

Es ist der einzige Film, bei dem Charles Laughton Regie geführt hat. Als er 1955 in die Kinos kam, war er ein ziemlicher Flop; nicht nur beim Publikum, dem Robert Mitchum in der Rolle eines psychopathischen Predigers, der Frauen reihenweise umbringt, wohl etwas sinister erschien; jedenfalls lud die Figur offenbar nicht zu spontaner Identifikation ein, was ja eher ein gutes Zeichen ist. Aber auch die Kritik wußte mit dem Film nicht viel anzufangen. Es blieb Laughtons einzige Regiearbeit, und das ist eine Schande, denn „The Night of the Hunter“, darüber ist man sich mittlerweile einig, von Pauline Kael bis (nur des Reimes wegen!) Kurt Scheel, gehört zu den hundert Meisterwerken der Filmgeschichte, und sogar Mr. Halliwell, dem Prätention und Künstlichkeit ein Greuel sind, gibt diesem amerikanisch-europäischen Bastard drei Sterne.

Ein Sternenhimmel, der zarte Gesang eines Wiegenlieds, „Dream, little one, dream, here is only a dream“, und dann erscheint Lillian Gish mitten im Himmel, der große Stummfilmstar des großen David Wark Griffith, des Erfinders des Kinos, und sie spricht zu uns: „Nun, Kinder, erinnert ihr euch, wie ich letzten Sonntag von unserem Herrn erzählt habe“, jetzt sehen wir fünf Kindergesichter am Himmel aufgereiht, so strahlend und proper und vertrauensvoll glotzen sie uns an, daß einem richtig schlecht werden könnte, und wenn die Gish dann fortfährt, du sollst nicht richten, auf daß du nicht gerichtet wirst, da hast du eigentlich schon gerichtet und willst das Kino fluchtartig verlassen, aber dann gibt es einen Schnitt, aus großer Höhe ist ein Fluß zu sehen – eine Hubschrauberaufnahme, 1955 eine Seltenheit –, ein Städtchen, dann, noch tiefer, spielende Kinder, die eine Frauenleiche entdecken, und mit dieser erfreulichen Wende beschließt du denn doch, sitzen zu bleiben.

Schnitt: Ein Auto, Modell T?, fährt am Fluß entlang, der Fahrer trägt die Kleidung eines Predigers und bespricht sich gerade mit seinem Boss: „Was nun, Herr? Noch eine Witwe? Waren es jetzt sechs oder schon zwölf?“ Dazu ertönt dieses drohende Motiv, vier unverbundene Blechbläserakkorde, die Mitchum auch musikalisch als den Bösen ausweisen.

So viel ist am Anfang klar: Wir erleben einen Traum, ein Märchen, dessen Süße in Gestalt des Guten – Lillian Gishs und dieser Kinderlein – kaum zu ertragen wäre, gäbe es nicht die Schwärze und Perversion des Bösen zum Ausgleich: Mitchum in einer Burlesk-Show, dem beim Tanz einer lasziven Stripperin buchstäblich das (Spring-)Messer in der Hose aufgeht, und dem dann, man glaubt es kaum, die Gesichtszüge entgleisen, als habe er einen Orgasmus gehabt. 1955!

Um an die Beute aus einem Überfall heranzukommen, heiratet er die Witwe des exekutierten Täters, Shelley Winters. In einer der gräßlichsten, grandiosesten Szenen des Films bringt er sie um: Mit überkreuzten Armen im Bett liegend, erwartet sie geradezu ergebungsvoll, wie Gottes Urteil, den tödlichen Messerstich, den Mitchum in grotesker Pose, als bringe er ein Opfertier dar, ausführt; in einem Schlafzimmer, dessen Wände an einen gotischen Dom, dessen Licht-und-Schatten-Spiel an den deutschen Expressionismus erinnern: Doktor Caligari läßt grüßen.

Oder die Szene, wenn John und Pearl, die beiden Kinder, mit dem Geld fliehen können und aus Mitchum ein Laut der Enttäuschung hervorbricht, der nichts Menschliches mehr hat: der Schrei eines Tieres oder des Teufels. Das ist schrecklich und komisch zugleich, ein Alptraum, wenn das Böse dich verfolgt und die Beine immer schwerer werden, wie in Zeitlupe, du kommst nicht vorwärts, das Entsetzen, gleich hat es dich, diese Lust!

Poesie und Grauen: Die ermordete Shelley Winters im Auto sitzend, auf dem Grund des Flusses, ihre langen Haare schlängeln sich in der Strömung wie die Schlingpflanzen, so schön, und dazu diese traurige Musik, die wir das erste Mal bei der Hochzeit hörten, ein „valse triste“ ...

In einem Boot entkommen die Kinder, und nun wagt Laughton etwas so Verrücktes, daß man kaum den Augen trauen mag. Aus der Groteske wird ein reines Märchen, wir sehen das treibende Boot, und im Vordergrund des Bildes sitzt eine dicke Unke, als würde sie die little ones, also uns, schützen; dann ein Käuzchen, eine Schildkröte, zwei Hasen, Schafe – die Tiere, die Natur und der Sternenhimmel halten Wacht über die beiden, und wir werden ganz ruhig, auch wenn Mitchum sie zu Pferde verfolgt und mit schöner, tiefer Stimme diabolisch ein Kirchenlied singt: „Leaning, leaning, safe and secure from all alarms, leaning, leaning on the everlasting arms.“ Auch wir sind nun „safe and secure“ in den Händen dieses Films und, wenn mir diese respektvolle Blasphemie gestattet sei, in der Ewigkeit unserer Kirche: des Kinos. Kurt Scheel