Betr.: Strukturwandel im Revier: Die ganze Region tickt längst in einem anderen Takt

Noch Anfang der 80er Jahre skandierten Zehntausende Demonstranten in der Dortmunder Innenstadt: „Kohle, Stahl und Bier, davon leben wir.“ Nun, Zechen gibt es hier schon lange nicht mehr, und auch vom Stahl leben immer weniger in der Stadt. Die ganze Region tickt längst in einem anderen Takt. Dennoch prägen die kohlegeschwärzten Gesichter der Bergleute immer noch das Bild.

Tatsächlich, so hat erst jüngst wieder der Bochumer Wirtschaftshistoriker Dietmar Petzina vorgerechnet, beschäftigt schon der kulturwirtschaftliche Bereich in NRW — von den Medien bis zum Stadttheater — mehr Menschen als der klassische schwerindustrielle Kern von Bergbau und Stahl zusammen. Gleichwohl hält sich die Mär vom rückwärtsgewandten Revier nun schon seit Jahren. Und jedesmal, wenn Bergleute demonstrieren, macht das Klischee in den Kommentarspalten aufs neue Karriere.

Dabei sind die Zeichen des Wandels seit Jahren unübersehbar. Heute studieren in der Region an sechs Hochschulen, mehreren Akademien und Fachhochschulen mehr als 150.000 Studenten. 26 Technologie- und Gründerzentren sind in den letzten Jahren hinzugekommen. Neuansiedlungen, die allein in Dortmund in unmittelbarer Nähe der Universität mehrere tausend hochqualifizierte Arbeitsplätze entstehen ließen.

870.000 oder 57 Prozent der Gesamtbeschäftigten im Revier arbeiten heute im Dienstleistungssektor. Dagegen ist der Anteil der Industrie seit 1980 von 37 Prozent auf 29 Prozent geschrumpft. Für ausreichend Beschäftigung sorgte dieser Wandel indes nicht, weil das Alte schneller stirbt, als das Neue wächst. Während in den Bereichen Industrie, Bergbau und Baugewerbe nach einer Analyse des Gelsenkirchener Instituts für Arbeit und Technik seit 1980 265.000 Arbeitsplätze verlorengingen, kamen im Dienstleistungsbereich nur 135.000 Arbeitsplätze (plus 18 Prozent) hinzu. Hier liegt nach wie vor eine wesentliche Schwäche des Reviers, denn die Steigerungsraten in München (plus 33), Frankfurt (plus 29,5) oder Köln/Bonn (plus 29) fielen während dieser Zeit höher aus.

Ob die gewährte Sterbehilfe für den geschrumpften Kohle- und Stahlbereich den Strukturwandel „eher gehemmt als gefördert“ hat, wie der Wirtschaftssachverständigenrat schon 1988 behauptet hat, ist durchaus umstritten. Doch ein Absturz wie in anderen Montanregionen Europas blieb den Menschen im Revier dadurch weitgehend erspart. Den Anstieg der Arbeitslosigkeit auf inzwischen über 15 Prozent in der Region konnte indes nicht verhindert werden. Woran es mangelt, läßt sich im Gewerbegebiet „Asterlagen“ in Duisburg- Rheinhausen beispielhaft studieren. In unmittelbarer Nähe der Autobahn A2 entstand dort infolge der Auseinandersetzung um das dichtgemachte Stahlwerk Rheinhausen ein neues Gewerbegebiet. Der größte Teil der erschlossenen Fläche steht seit Jahren leer. Es mangelt schlicht an Investoren. Walter Jakobs