„Mit dem Volksempfinden nicht vereinbar“

■ Ein Rechtsanwalt recherchierte die authentische Geschichte eines „arischen“ Kindes, das im Nazi-Deutschland keinen „jüdischen“ Vornamen haben durfte

Am 11. August 1938 wird Esther geboren. Am selben Tag gehen ihre Eltern, das Pfarrerehepaar Luncke, zum Standesbeamten. Sie wollen den Namen, den sie für ihre Tochter gewählt haben, eintragen lassen. Der Beamte verweigert. Er muß ein eifriger Leser der „Zeitschrift für Standesamtwesen“ gewesen sein. Denn nur dort war der Erlaß des Innenministers vom 14. April 1937 abgedruckt worden: „Die Kinder deutscher Volksgenossen sollen grundsätzlich nur deutsche Vornamen erhalten.“ Esthers Eltern kannten weder den Erlaß, noch wußten sie, daß sie sich mit dieser Namenswahl auf einen Nebenschauplatz des nationalsozialistischen Kampfes gegen die Juden verirrt hatten.

„Das Mädchen, das nicht Esther heißen durfte“ nennt der Autor Winfried Seibert, Rechtsanwalt für Presserecht in Köln und Vater einer Esther, sein Buch. Er hat die genauen Details dieser Verweigerung, ihre Vorgeschichte und ihr Nachwirken, in jahrelanger Kleinarbeit recherchiert und aufgeschrieben. Herausgekommen ist eine selten gelungene Wiedergabe eines Einzelschicksals und die genaue Rekonstruktion jener juristischen Hintertriebenheiten, die im sozialen Bereich die Ausgrenzung von Minderheiten, insbesondere von Juden, erst möglich machten.

Hätten Esthers Eltern übrigens für ihre Tochter die weibliche Form des Namens „Hitler“ als Vorname für ihre Tochter eintragen lassen wollen, der Beamte hätte auch dies verweigern müssen. Denn, „wenn“, so ein Runderlaß des Innenministers von 1933, „bei einem Standesbeamten der Antrag gestellt wird, den Namen des Herrn Reichskanzlers als Vornamen, sei es auch in der weiblichen Form Hitlerine, Hitlerike oder dgl. einzutragen, so hat er dem Antragsteller nahezulegen, einen anderen Vornamen zu wählen, da die Annahme des gewählten Vornamens dem Herrn Reichskanzler unerwünscht ist.“

Anders im 19. Jahrhundert Bismarck. An ihn hatte sich ein Livländer namens Trampeldang mit der Bitte gewandt, seinen Sohn Bismarck nennen zu dürfen. Bismarck genehmigte und antwortete: „Sollte mir in meinem hohen Alter der Himmel noch einen Sohn bescheren, so werde ich nicht verfehlen, ihn auf den Namen Trampeldang taufen zu lassen.“

Ähnlich freiheitlich sahen und sehen die Amerikaner das Namensrecht. „Neuralgia“, „Morphine“, „Constipation“, „Vaseline“ oder „Placenta“ sind Vornamen, die sich in den Südstaaten finden, gewählt von Schwarzen für ihre Kinder. (Diese und andere Namenspretiosen beschreibt Rechtsanwalt Nicolas Becker in einem Aufsatz im Kursbuch Nr. 72, 1983.)

Pastor Luncke jedoch wollte gar keine Extravaganzen für seine Tochter beanspruchen. Er hatte den Namen gewählt, weil er ihn schön fand. Er hatte versucht diesen Wunsch gerichtlich durchzusetzen und scheiterte am 28. Oktober 1938 in letzter Instanz am Berliner Kammergericht, das die Eintragung des Namens Esther als „typisch jüdisch“ und damit „nicht für ein deutsches Kind geeignet“ ablehnte. Am 3. Dezember 1938 bekam das Mädchen einen amtlichen Vornamen: Elisabeth statt Esther.

Seibert dekliniert das Berliner Urteil durch – Satz für Satz, Absatz für Absatz. Allgemeinverständlich und dabei juristisch präzis, zeigt er anhand eben dieses Falles, die Vorreiterrolle der Gerichte bei der Durchsetzung der vollkommenen Entrechtung der Juden. Die Richter waren damit voll auf Linie und folgten der in Goebbels' Tagebuch am 11. Juni 1938 niedergelegten Parole: „Nicht Gesetz ist die Parole, sondern Schikane.“ Zwar ging es bei der Esther-Entscheidung um ein „arisches“ und nicht um ein „jüdisches“ Mädchen. Das Gericht aber entschied, daß „jede Gefahr einer geistigen Berührung mit dem Judentum im Keim erstickt wird“. Daher könne einem arischen Mädchen kein jüdischer Vorname zuerkannt werden. Zwar erkannte das Gericht, daß der Name Esther, obwohl zentral im Alten Testament, nicht etwa ein jüdischer, sondern ein „babylonisch- persischer, demnach arischer“ Vorname war. Aber: Ein solcher Name ist „mit der nationalsozialistischen Auffassung des Volkes, wie sie sich seit der Machtübernahme durchgesetzt hat“, nicht vereinbar. Esther hat von den Anstrengungen ihrer Eltern nichts mitbekommen. Mit zweieinhalb Jahren starb sie. Am 25. Mai 1946 berichtigte das Amtsgericht Essen die Eintragung – aus Elisabeth wurde Esther. Julia Albrecht

Winfried Seibert: „Das Mädchen, das nicht Esther heißen durfte“. Reclam Verlag, Leipzig 1996, 308 Seiten, 24 DM