Siege, Niederlagen und der lange Atem der Dickköpfe

Vor 20 Jahren wurde es verkündet: Atomfabriken und Endlager kommen ins Wendland. Doch Land und Bund hatten sich gründlich verschätzt  ■ Von Jürgen Voges

Vorgewarnt waren wir und auch vorbereitet“, erinnert sich die langjährige Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow- Dannenberg, Marianne Fritzen, an jenen Tag vor 20 Jahren, an dem alles anfing. Für den 22. Februar Punkt 16 Uhr hat damals Ernst Albrecht, CDU-Ministerpräsident von Niedersachsen, die „Standortentscheidung“ für das bundesdeutsche „Nukleare Entsorgungszentrum“, angekündigt.

Das Kreislandvolk hat an diesem Nachmittag den Projektleiter Wiederaufarbeitung der PreussenElektra, Dr. Carsten Salander, in das Lüchower Gildehaus zum Vortrag geladen. Dort aber stehen auch Marianne Fritzen und ihr Mitstreiter Martin Mombaur bereit, um Zeitungs- und Rundfunkreportern den Widerstand der kleinen, rund fünfzig Aktivisten zählenden BI Umweltschutz Lüchow- Dannenberg gegen das gigantische „NEZ“ anzukündigen. Schon kurz nach vier meldet der Rundfunk, daß es Gorleben getroffen hat. Ganze 200 AKW-Gegner alarmieren am nächsten Tag mit einem Autokorso durch den Landkreis die Bewohner des Wendlands.

Die überraschende Standortentscheidung ist in Wahrheit lange vorbereitet: Der Gast des Landvolks, Dr. Salander, avanciert später zum Chef der DWK, der „Deutschen Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen“, die bei Gorleben den „Entsorgungspark“ aus Wiederaufarbeitungsanlage (WAA), Endlager und Eingangslager für abgebrannte Brennelemente bauen soll.

Die CDU-Landesregierung hatte sich intern schon im Herbst 1976 auf den Gorlebener Salzstock als Endlagerstandort festgelegt. Dennoch ist die Standortentscheidung vom 22. Januar 1977 für die breite Öffentlichkeit eine Überraschung, denn ihr liegen offensichtlich politische Motive zugrunde: Der Salzstock Gorleben hat vorher nicht zu jenen drei möglichen Endlagerstandorten gehört, die eine Begutachtung aller norddeutschen Salzstöcke aus geologischen Gründen in die engere Wahl zog. An diesen drei vorausgewählten Standorten hat es bereits 1976 Demonstrationen und Besetzungen gegeben.

Die Landesregierung glaubt, das NEZ im östlichsten, von der DDR-Grenze umschlossenen niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg leichter durchsetzen zu können. Schließlich ist die Bevölkerung dieser dünnbesiedelten, bäuerlich geprägten Gegend als ausgesprochen konservativ bekannt und wählt seinerzeit regelmäßig zu 60 Prozent CDU.

Daß die Rechnung von Ernst Albrecht so nicht aufgeht, zeigt sich allerdings sehr bald: Selbst im Kreislandvolk, unter den treuesten, bäuerlichen CDU-Anhängern, sorgt die Standortentscheidung für heftige Diskussionen, eine Minderheit der Bauern lehnt das NEZ ab. Die wendländischen AKW-Gegner sitzen schon am Abend des 22. Februar beim allerersten Gorleben-Treffen zusammen. In der Kneipe „Alte Burg“ in Gorleben beschließen sie, eine erste bundesweite Großdemonstration gegen das NEZ auf die Beine zu stellen.

Sozusagen hauptamtlich soll die Demo eine junge Frau aus Uelzen vorbereiten, die dann eine der ersten von später vielen AKW-GegnerInnen ist, die über den Protest im Wendland heimisch werden. Der heutigen Grünen-Landtagsabgeordneten Rebecca Harms, die damals in Uelzen Auszubildende in einer Gärtnerei ist, gibt ihr Chef, ein sehr konservativer AKW-Gegner, für die Demovorbereitung frei. Parallel zu einem der Demo- Treffen gibt sich am 3. März 1977 die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg den Status eines eingetragenen Vereins. Gut 40 Gründungsmitglieder zählt der BI-Verein, heute sind es rund 800.

Landleute und Widerstand: dazwischen lagen Welten

Der NEZ-Bauplatz im Gartower Forst ist damals nur eine große abgebrannte Waldfläche. Es gibt noch keinen Bauzaun, nichts zum anfassen, wie bei den großen Brokdorf-Demos jener Jahre. In diesen Anfangsjahren liegen zwischen den normalen Landkreisbewohnern und dem Widerstand aus rebellischer Landjugend, aus den bürgerlichen AKW-Gegner in der BI und aus einigen Dutzend Bauern noch Welten. An den ersten Protesten sind neben Jugendlichen aus der Region in der großen Mehrzahl AKW-GegnerInnen aus Großstädten dabei. Die Kreisverwaltung geht noch gegen einzelne Anti-Atom-Plakate vor. Heute hängen diese überall, und auch der SPD-Landrat und Chef der Kreisverwaltung ist ein bekennender Castor-Gegner.

In über hundert bundesdeutschen Städten gründen sich schon bald nach der Standortentscheidung Gorleben-Freundeskreise. Diese pachten Parzellen auf dem Bauplatz. Jedes Wochenende gibt es dort nun Baumpflanzaktionen. Auswärtige AKW-Gegner organisieren 1977 auch das erste Anti- AKW-Sommercamp in Gorleben. Zwischen der Bürgerinitiative, die vor allem die Wendländer für den Protest gewinnen will, und den auswärtigen AKW-Gegnern gibt es immer wieder Streit um die korrekte politische Linie.

Durch die Veröffentlichung des Raumordnungsprogramms für das NEZ im Herbst 1978 wird dann der ganze Umfang der in Gorleben geplanten Bauten deutlich: Eine Fläche von zwölf Quadratkilometern soll mit dem „Entsorgungspark“ bebaut werden. Bei einem Teil der einheimischen Bevölkerung schlägt die Stimmung um. Im Februar 1979 protestieren bereits 120 Landwirte mit ihren Traktoren oder Mähdreschern gegen einen Besuch des Bundestagsausschusses für Forschung und Technologie in Gorleben. Die gleichen Bauern beschließen danach, einen Treck nach Hannover gegen das NEZ zu organisieren. Als Mitte März die Probebohrungen auf dem WAA- Gelände beginnen, beteiligen sie sich mit ihren Fahrzeugen an Blockadeaktionen.

Anlaß des Gorleben-Trecks sind Hearings der Landesregierung zur geplanten WAA. Er endet mit der bis dahin größten bundesdeutschen Anti-AKW-Demonstration. Etwa 3.000 Wendländer, darunter 300 Bauern mit ihren Treckern, brechen am 25. März 1979 unter dem Motto „Albrecht, wir kommen“ aus dem Landkreis nach Hannover auf. Dort werden sie sechs Tage später von über 130.000 AKW-GegnerInnen aus dem gesamten Bundesgebiet empfangen. Während des Trecks ereignet sich in dem US-amerikanischen Atomkraftwerk Harrisburg ein schwerer Störfall, bei dem der Reaktorkern durchzuschmelzen droht. Er macht die ständig in den Medien präsenten Bauern zum Markenzeichen des Gorlebenprotestes. Sechs Wochen später, am 16. Mai 1979, muß Ministerpräsident Ernst Albrecht im Landtag erklären, daß der Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben politisch nicht durchsetzbar ist.

Bundeskanzler Schmidt wußte vom Betrug

Kurz danach versichert er in einem Brief an den Gartower Samtgemeindebürgermeister, daß „die Landesregierung einem etwaigen Antrag auf Errichtung einer Wiederaufarbeitungsanlage im Landkreis Lüchow-Dannenberg auf keinen Fall zustimmen wird“. Erst auf diesen Brief hin stimmen die Gartower und Gorlebener Räte dem Bau eines Zwischenlagers für abgebrannte Brennelemente in Gorleben zu.

Ernst Albrecht plant allerdings von vornherein einen Betrug. In einem internen Schreiben an den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt vom 8. Juli 1979 stellt er klar, daß er bei seiner Absage an die WAA „Begriffe, die interpretationsfähig sind“, gebraucht hat, „Vokabeln, wie ,für den Zeitraum, für den wir zu entscheiden haben‘, ,für diese Politiker-Generation‘“.

Die beiden Großereignisse der frühen Jahre des Widerstandes, den Gorlebentreck 1979 und die „Republik freies Wendland“ des folgenden Jahres, stehen nacheinander für Erfolg und Niederlage.

Trotz der Absage an die WAA hält die CDU-Landesregierung am Bau vom Endlager und Zwischenlager Gorleben fest. Gegen die Probebohrungen für das Endlager richtet sich nun vor allem der Widerstand: Im Januar 1980 blockieren AKW-Gegner kurzzeitig die Tiefbohrstelle 1002, an Ostern des gleichen Jahres vertreibt die Polizei unter Einsatz von Wasserwerfern mehr als 2.000 Frauen von der Bohrstelle 1003, die auf dem heutigen Zwischenlagergelände liegt.

Im Kreis der Gorlebenfrauen wird anschließend die Idee der Platzbesetzung geboren: Am 3. Mai 1980 besetzen 5.000 AKW- Gegner die Bohrstelle 1004 und errichten ein großes Camp aus Holzhäusern, Hütten und Zelten samt Freundschaftshaus, Küche, Blumenbeeten, Enten- und Hühnergehege. Als „Republik Freies Wendland“ macht dieses Hüttendorf einen Monat lang bundesweit Schlagzeilen. Bis zur Räumung am 4. Juni erproben in der Republik ständig zwischen 500 und 1.500 AKW-Gegner ein selbstbestimmtes Landleben. Aus ihr sendet ein eigener Rundfunksender, das „Radio Freies Wendland“, sie unterhält „Botschaften“ in anderen Städten und verfügt über eine eigene Fahne. Für die dramatische Räumung des Hüttendorfes, die live im Rundfunk übertragen wird, bietet die Landesregierung 8.000 Polizisten auf. In über 90 bundesdeutschen Städten demonstriert die Anti-AKW-Bewegung gegen den Polizeieinsatz, besetzt viele Kirchen. Strikt gewaltfrei geht es bei all den Protesten gegen die Probebohrungen für das Endlager noch zu: Wie heute prägen immer wieder Sitzblockaden das Bild. Die jungen AKW-GegnerInnen ketten sich auch an Bäume an, die gefällt werden. Nur vereinzelt kommt es auch zu Sabotageaktionen, werden etwa Bohrlöcher verstopft.

Der Räumung der „Republik Freies Wendland“ folgt jedoch eine Krise, eine Aufspaltung des wendländischen Widerstandes. Viele Autonome gehen eigene Wege, haben die Sitzblockaden endgültig satt. Sie setzen gegen Bau und Inbetriebnahme des Zwischenlagers auf militante Demonstrationen und auf Brandanschläge. Am 5. 9. 1982 versuchen Teilnehmer einer 10.000köpfigen Demonstration das von starken Polizeikräften gesicherte Zwischenlagerbaugelände zu stürmen. Die BI Lüchow-Dannenberg distanziert sich anschließend von Angriffen mit Steinen auf Polizisten. Den Gegenpol dazu bildet die „Unabhängige Wählergemeinschaft“ (UWG). Unter dem Eindruck der Zustimmung der kommunalen Räte zum Zwischenlagerbau treten Gegner der Atomanlagen bei den Kommunalwahlen 1981 als UWG an: Sie holen im gesamten Landkreis auf Anhieb 18 Prozent der Stimmen. Rückblickend bildet sich gerade mit der Aufsplitterung, mit dem Verzicht auf eine für alle verbindliche politische Linie, jener Pragmatismus heraus, der wohl das Erfolgsgeheimnis des langen Atems der Wendländer ist: Die BI propagiert Widerstand auf allen Ebenen auf der Straße, vor Gericht und in den Parlamenten. Dazu kommen Aktionen im Dunkel der Nacht, Sachbeschädigungen und brennende Baufahrzeuge. Solche Aktionen allerdings, so es hat Marianne Fritzen in langen Jahren oft genug wiederholt, „hat jeder für sich selbst zu verantworten, und sie dürfen nie Menschen am Leib oder Leben gefährden“.

Am 1. 11. 1982 trifft sich Ernst Albrecht in seinem Privathaus mit maßgeblichen wendländischen Kommunalpolitikern aus den etablierten Parteien. Von da ab sieht der CDU-Ministerpräsident eine WAA im Wendland wieder als „politisch durchsetzbar“ an. Als Standort ist nun das Dorf Dragahn 25 Kilometer westlich von Gorleben vorgesehen. Die BI ruft umgehend zur Demo nach Dannenberg, bringt dagegen gut 2.000 Wendländer, darunter 300 Landwirte mit Traktoren, auf die Beine. Unter dem Motto „Albrecht, wir kommen wieder“ marschieren bzw. fahren im Januar 1983 erst 10, dann 100, und schließlich am 29. Januar statt der versprochenen 1.000 gleich 3.000 Wendländer nach Hannover. Sie errichten dort ein Holzhaus, eine „Arche Wendland“, und schlagen nahe dem Landtag 1.000 Holzkreuze ein.

Das ganze Jahr über finden viele kleine Protestaktionen statt. Regelmäßig ist der Dragahner Forst Ziel von Sonntagsspaziergängen. Im „Niemandsland“ an der DDR-Grenze schlagen zweimal Grenzbesetzer ihre Zelte auf. Die im Juni beginnenden Untersuchungen des WAA-Baugrundes werden immer wieder von kleinen Gruppen von AKW-Gegnern behindert. Dabei gehen auch Reifen von Bohr- oder Polizeifahrzeugen kaputt. Daß der WAA-Bau im Landkreis mehrheitlich abgelehnt wird, dokumentieren dann die über 30.000 Einwendungen im Genehmigungsverfahren, die die BI am 27. Dezember 1983 vorlegt. Am 4. Februar 1985 entscheidet sich der DWK-Aufsichtsrat endgültig gegen Dragahn und für Wackersdorf als WAA-Standort und beschließt als Kompensation für die Landesregierung den Bau einer Atommüll-Konditionierungsanlage in Gorleben.

Im Jahr 1983 wird auch das Gorlebener Zwischenlager fertiggestellt. Das Doppellager besteht aus einem Faßlager für schwach- und mittelaktive Abfälle und der luftgekühlten Betonhalle für die Castor-Behälter mit abgebrannten Brennelementen. Doch zehneinhalb Jahre soll es noch dauern, bis tatsächlich im April 1994 der erste Behälter mit hochradioaktivem Müll dort eintrifft. Für die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, aber auch für den militanten Gorleben-Protest, ist nun die „Verhinderung der Atommülltransporte ins Wendland“ der zentrale Punkt. Schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1983 steigt die Zahl der Anschläge und Sabotageaktionen militanter AKW-GegnerInnen stark an. Ziel sind zunächst vor allem Fahrzeuge und Maschinen von Firmen, die am Bau des Zwischenlagers beteiligt waren, später auch Bahnstrecken, auf denen Atommüll ins Wendland transportiert werden kann.

Die BI Lüchow-Dannenberg und die Mehrzahl der norddeutschen Anti-AKW-Initiativen will mit einem Drei-Stufen-Konzept den ersten Atommülltransport nach Gorleben verhindern: Eine 26 Kilometer lange, fast geschlossene Kette von 11.000 Menschen riegelt am 24. März 1984 den Landkreis symbolisch für Atommüll ab. Dann werden die Zufahrtsstraßen gesperrt. Eine Abriegelung des Landkreises ist ebenfalls für die entscheidende dritte Stufe, den „Tag X“ des ersten Transports mit Atommüllfässern, geplant. Als schließlich am 8. und 9. Oktober 1985 die ersten beiden Transporte mit schwachradioaktivem Abfall vom AKW Stade nach Gorleben fahren, werden AKW-Gegner aus dem ganzen Bundesgebiet per Telefon alarmiert. Doch die am Ende 1.500 Demonstranten verzögern nur die von etwa 2.000 äußerst entschlossenen Polizisten begleiteten Transporte durch Baumbarrikaden, Sitz- und Traktorblockaden.

Bereits Anfang 1985 steht erstmals auch ein Transport von hochradioaktivem Atommüll nach Gorleben bevor. Bei den Aktionstagen „Unruhe im Wendland“ Ende Februar nehmen sich 2.000 AKW-GegnerInnen vor allem die nach Dannenberg führenden Bahnstrecken vor: Zahlreiche Gleismuttern werden gelockert und Telegrafenmasten umgesägt. Nur Tage später untersagt das Verwaltungsgericht in Lüneburg den unmittelbar bevorstehenden Transport des ersten Castor-Behälters mit abgebrannten Brennelementen aus dem AKW Stade nach Gorleben.

Am 23. März 1985 erläßt das gleiche Gericht ein generelles vorläufiges Einlagerungsverbot für das Castor-Lager. Danach ebbt die Anschlagswelle ab. Im Mai 1986 demonstrieren noch einmal 5.000 AKW-Gegner rund um das Endlagergelände. Der Widerstand macht erst mal Pause, bis es mit dem Castor wieder losgeht.

Schon in diesen ersten zehn der 20 Jahre Gorlebenprotest liegt die Stärke in der Vielfalt: Die Aktionsformen reichen vom Widerstandslied über das regelmäßige Kaffeetrinken am Baugelände, über Besetzungen von Kränen oder Sendemasten, Blockaden, Platzbesetzungen bis hin zu gravierenden Sachbeschädigungen und Anschlägen, für die ein anonymer dem autonomen Spektrum nahestehender „Widerstand“ verantwortlich ist.

Im Protest engagieren sich unterschiedlichste Alters- oder gesellschaftliche Gruppen: Schüler wie Rentner, Frauengruppen genauso wie Landwirte der „Bäuerlichen Notgemeinschaft“ oder Pastoren. Obwohl unter den Aktivisten die Zugewanderten überrepräsentiert sind, ist die Verteidigung des heimatlichen Wendlandes gegen außen eine Grundfigur. Im Laufe der achtziger Jahre lassen sich dann immer mehr AKW- Gegner von außerhalb, die das Wendland über die frühen Proteste kennengelernt haben, dort nieder. In dem strukturschwachen und bis zur Grenzöffnung 1989 völlig abgelegenem Gebiet kehrt sich so die Tendenz zur Abwanderung gut qualifizierter jüngerer Menschen teilweise um. Eine große Rolle spielen die Zuwanderer in der achtziger Jahren bei der Herausbildung einer für den ländlichen Raum ungewöhnlich vielfältigen Alternativ- und Kulturszene. Im Protest engagierte Landwirte wechseln in die Wachstumsbranche ökologischer Landbau, aus der auch Verarbeitungs- und Vermarktungsbetriebe hervorgehen.

Als die Bundesregierung 1974 mit der Standortsuche für das NEZ begann und alle norddeutschen Salzstöcke untersuchen ließ, sollte der ganze Entsorgungspark noch 1985 in Betrieb gehen. Daß heute die Erkundung des Gorlebener Salzes noch immer am Anfang steht und die Polizeischaren erst zwei Castoren nach Gorleben durchgebracht haben, kann der Widerstand durchaus als Erfolg verbuchen.

Eigentlich war Gerhard Schröder lange dagegen

Trotz einer Vielzahl von Ermittlungs- und Strafverfahren, die schon in den achtziger Jahren bis zum Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung reichten, wurde letztlich in 20 Jahren Gorlebenprotest nie ein wendländischer AKW-Gegner zu einer Haftstrafe verurteilt.

Seit Mitte der achtziger Jahre hat der Gorlebenprotest auch in den Volksvertretungen bis hinauf zum Europaparlament regelmäßig Sitz und Stimme: Über Grünen- Abgeordnete, die der Widerstand in die Politik verschlagen hat. Auch Marianne Fritzen ist heute Grünen-Kreistags- und Stadtratsabgeordnete.

Zwischen 1990 und 1994, zur Zeit der rot-grünen Koalition in Niedersachsen war dann selbst ein Ministerpräsident Gerhard Schröder auf die Forderungen des Gorlebenprotestes verpflichtet: Der damalige Koalitionsvertrag wollte „die Baumaßnahmen am Endlager Gorleben beendet“ und die „erste Teilerrichtungsgenehmigung für die Pilotkonditionierungsanlage widerrufen“ sehen und lehnte auch die Inbetriebnahme des Zwischenlagers ab. Die Einhaltung dieses Koalitionsvertrages konnten die wendländischen Atomgegner dann nur vergeblich einklagen.

Heute kann sich der SPD-Politiker Schröder beim Wortbruch durchaus mit seinem Vorgänger Ernst Albrecht messen. Fast 20 Jahre als Juso, als Bundes- und Landtagsabgeordneter, dann als Ministerpräsident ist Schröder öffentlich gegen das Endlager Gorleben zu Felde gezogen. In seinem letzten Konsenspapier will er nun durch eine von der SPD-Bundesratsmehrheit zu verabschiedende Enteignungsklausel im Atomgesetz auch dem Endlagerbau den Weg endgültig ebnen. Doch auch das ist noch nicht gelungen. Seit im September 1988 die BI Lüchow- Dannenberg ihre Anti-Castor- Kampagne „Wir stellen uns quer“ startete, folgten Tausende von öffentlichen Selbstverpflichtungen zum Widerstand. Gegen den Sechsertransport ist heute selbstverständlich auch der Landrat des längst rot-grün regierten Kreises. Der Kreistag stellt den Anfang März anrückenden Polizeischaren laut Beschluß keine Flächen oder Gebäude zur Verfügung. 20 Jahre nach der Standortentscheidung ist das Wendland heute eine Region von AKW-Gegnern.